Schultze. »Dann spielte ich das Lied mehreren Sängern, Musikverlegern und Plattenproduzenten vor. Doch keiner mochte es.«
Nur Schultze selbst glaubte daran. »Das Chanson war ja für einen Mann geschrieben, als Liebeserklärung an ein Mädchen namens Lili Marleen. Da sich nun aber kein Sänger fand, der es aufnehmen wollte, schickte ich die Noten meiner Freundin Lale Andersen.«
Norbert Schultze lächelte verschmitzt. »Ich hatte einige Jahre davor eine Liaison mit Lale, die damals noch Liselotte Wilke hieß. Sie war ein nettes Mädchen, nein, die große Liebe war’s nicht.« Doch das spielte keine Rolle, als die junge Sängerin das Chanson unter dem etwas sperrigen Titel Lied eines jungen Wachtpostens aufnahm.
»Die Platte war ein totaler Flop, ganze siebenhundert Stück wurden verkauft«, erinnerte sich Norbert Schultze, und er wunderte sich auch gar nicht darüber: »Der Textdichter Hans Leip hatte die Worte im Ersten Weltkrieg geschrieben. 1938 war Frieden, da konnte das Lied eines Mädchens, das vor dem Kasernentor auf seinen Liebsten wartet, nicht unter die Haut gehen.«
Wieder vergingen Jahre. Und die Lili-Marleen-Platten verstaubten in den Archiven.
Doch inzwischen tobte der Zweite Weltkrieg.
Was nun folgte, war weniger der preußischen Präzision, als einem zutiefst österreichischen Wesenszug zu danken. »Einige junge Soldaten gründeten 1941 im Auftrag der Deutschen Wehrmacht in Belgrad einen Soldatensender. Da sie nicht wussten, woher sie die Musik für ihre Sendungen nehmen sollten, wurde ein Bote zum nächstgelegenen Reichssender nach Wien geschickt. Der Mann sollte Platten aus dem Funkhaus in der Argentinier Straße, dem Gebäude der ehemaligen RAVAG, mitbringen.«
Wie’s so ist in Wien, erhielt der Bote »unter der Hand« einen Koffer voll verbotener Schellacks – darunter fanden sich Operettenmelodien von Emmerich Kálmán und Paul Abraham, Lieder, die von Richard Tauber und Joseph Schmidt gesungen wurden, amerikanische Tanzmusik, aber auch alte, ausrangierte Platten, die nie gespielt wurden. Eine davon war Lili Marleen.
Am 26. April 1941, kurz vor 22 Uhr, ging das Lied via Belgrad auf Welle 437,5 zum ersten Mal über den Äther. Und nun geschah das Unglaubliche: In den Tagen danach langten in der Redaktion des Soldatensenders Tausende Briefe aus Griechenland, Dalmatien, Kroatien, Kreta und sogar von der Afrika-Front ein, wo der Sender über Kurzwelle mit Richtstrahl zu empfangen war. Und wo immer das Lied zu hören war, gab es nur den einen Wunsch: »Wir wollen Lili Marleen wieder hören!«
»Das Lied traf die armen Frontsoldaten im dritten Kriegsjahr ins Herz«, erkannte Schultze. »Der Text war ihr Schicksal, jeder hatte die gleiche Sehnsucht, die gleiche Sorge: ob er je wieder seine Frau, seine Eltern, seine Kinder sehen würde.« Oder seine Braut … wie einst, Lili Marleen.
Das Echo war so gewaltig, dass Lili Marleen zur Kennmelodie einer täglichen Sendung wurde, in der ein Sprecher die Briefe von zu Hause an die Front und von der Front in die Heimat verlas. In einer Zeit, da man von den Ehemännern und Söhnen oft nur die Feldpostnummer kannte, war diese Verbindung die schnellste und sicherste, um persönliche Grüße und Nachrichten zu übermitteln. Oder, um zu erfahren, dass der Geliebte überhaupt noch am Leben ist.
Dass man das Lied, das so lange keiner hören wollte, jetzt an allen deutschen Fronten spielte, lag nahe. Dass es aber auch von den Truppen der Alliierten geliebt wurde, grenzt an ein Wunder. Es wurde, in alle Sprachen übersetzt, von Franzosen ebenso gesungen wie von Engländern und Amerikanern. »Denen war es ganz egal, dass das Lied aus einem feindlichen Land kam«, meinte Schultze. »Als es dann von Marlene Dietrich aufgenommen wurde, war’s über Nacht ein Welterfolg …«
»… der Sie wohl sehr reich gemacht hat?«, vermutete ich.
»Das glauben alle«, entgegnete der Komponist. »Aber so war’s nicht. Das Copyright wurde als Kriegsbeute beschlagnahmt, und nach dem Krieg gingen die Einnahmen an Hilflose und Veteranen. Erst seit 1963 erhalte ich die Tantiemen, aber sie sind natürlich lange nicht mehr so hoch, wie sie es früher gewesen wären.«
Norbert Schultze erzählte seine Geschichte ruhig und uneitel. Und meinte dann noch: »Ich möchte Ihnen aber sagen, dass ich froh bin, durch das Lied nicht reich geworden zu sein. Denn Lili Marleen konnte nur infolge dieses schrecklichen Krieges ein so großer Erfolg werden. Und ich möchte nicht an diesem Krieg Geld verdient haben.«
Das hatte er auch gar nicht nötig. Norbert Schultze hat die Musik zu mehreren Opern – Schwarzer Peter heißt die bekannteste – und zu siebzig Filmen geschrieben, darunter auch mehrere Lili-Marleen-Verfilmungen. Ein anderer seiner populären Schlager wurde durch die Interpretation von Hans Albers zum Welthit: Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise.
Im Vollererhof bei Hallein, in dem Norbert Schultze seinen Sommerurlaub verbrachte, steht ein altes Pianino. Ehe ich mich von ihm verabschiedete, setzte er sich noch ans Klavier und spielte ein paar Takte seiner Lili Marleen.
»Nach dem Krieg hat man mir vorgeworfen, dass dies ein ›Durchhaltelied‹ gewesen sei. Doch das stimmt nicht«, meinte er. »Das kleine Lied kann nichts dafür, dass es in einer schrecklichen Zeit zum Symbol für Heimweh, Trennung und Sehnsucht wurde. Und doch möchte ich sagen: Darauf stolz zu sein, wäre töricht.«
BRAHMS LAG IM PAPIERKORB
Professor Marcus macht eine Entdeckung
Es zählt ja nicht unbedingt zu den nobelsten Eigenschaften einer Hausangestellten, den Mistkübel ihrer Herrschaft zu durchwühlen. In diesem besonderen Fall hätte man der Arbeitskraft jedoch gerade dafür einen Orden überreichen sollen. Denn sie war im Haushalt des großen Johannes Brahms beschäftigt, der jedes Notenblatt jener Kompositionen, die ihm nicht wichtig erschienen, in den Papierkorb warf.
Durch Zufall lernte ich als junger Journalist den Wiener Musikwissenschafter Professor Gottfried Marcus kennen. Nachdem wir geklärt hatten, dass wir trotz fast identischer Namen weder verwandt noch verschwägert waren, konnten wir uns einem anderen Thema zuwenden, das naheliegenderweise Johannes Brahms hieß. Waren doch Leben und Werk des »Vollenders der Wiener Klassik«, wie man den Komponisten nannte, das Spezialgebiet des Musikprofessors Marcus. Er forschte, musizierte, lehrte und lebte für Johannes Brahms.
In Brahms-Biografien war dem Professor immer wieder der Name Cölestine Truxa aufgefallen. Diese hatte während der letzten zehn Lebensjahre von Johannes Brahms als dessen Wirtschafterin gearbeitet und gemeinsam mit ihren beiden Söhnen in seiner Wohnung gelebt: in der Karlsgasse 4 auf der Wieden in Wien.
»Wer weiß«, kam es Herrn Marcus am Beginn der siebziger Jahren in den Sinn, »vielleicht lebt noch irgendein Verwandter dieser Frau Truxa.«
Er nahm ein sehr unwissenschaftliches Buch zur Hand, das Amtliche Wiener Telefonbuch, schaute unter »Truxa« nach, rief ein paar Leute besagten Namens an, entschuldigte sich für die Fehlverbindung, wählte die nächste Nummer – bis er auf den Eintrag »Truxa Leo, Ing. Hofrat i. R., 6., Köstlergasse 5« stieß.
Wieder sagte der Professor sein Sprücherl auf: »Verzeihen Sie die Störung, Herr Hofrat, ich wollte Sie fragen, ob Sie mit Frau Cölestine Truxa verwandt sind.«
»Ja«, antwortete die Stimme eines alten Herrn, »das war meine Mutter.«
»Dann haben Sie Johannes Brahms persönlich gekannt?«
»Natürlich, wir lebten ja mit ihm in einer Wohnung.«
Marcus bohrte weiter: »Na und, haben Sie noch irgendwelche Erinnerungsstücke an Brahms?«
Jetzt lachte der fast neunzigjährige Herr Hofrat: »Die ganze Wohnung ist voll davon.« Und er erzählte die Geschichte vom Papierkorb: »Meine Mutter hob zehn Jahre lang alles auf, was Brahms wegwarf, und sie klebte sogar die von ihm zerrissenen Blätter wieder zusammen. Aber leider«, bedauerte er, »hat meine Nichte, die meine Wohnung erben wird, gesagt, dass sie einmal alles wegwerfen will, weil das Zeug heutzutage keinen Menschen mehr interessiert.«
Gottfried Marcus musste tief Luft holen, ehe er weitersprach. Nach einer Schrecksekunde