Figur eindringt, um sie sich anzueignen. Man kann mit ihm wunderbar über Gott und die Welt, Kunst und Politik reden, nur nicht über ihn selbst. Im Gegensatz zu den meisten anderen Schauspielern spricht er über sich einsilbig und lenkt ab.
»Ich lerne den Text und mithilfe des Textes versuche ich, die Figur zu finden. Erst aus der Kenntnis des Textes kann man etwas machen, sonst wäre es ja aufsagen. Ich wollte mich nie verstellen, sondern immer derjenige sein. Dann lese ich viel zusätzlich. Diesmal habe ich den Roman mehrmals gelesen, das Stück natürlich auch, und mich mit der erschütternden Biografie von Sándor Márai beschäftigt. Wie kommt er zu dieser extremen Geschichte?«
Da ist sie wieder, die unstillbare Neugier nach Literatur und deren Schöpfer, die Lust, sich in andere Personen zu verwandeln. Diese meisterhafte Studie einer unbewältigten Seelenpein hat der ungarische Autor Sándor Márai 1942, mitten im Krieg, veröffentlicht. Doch erst nach seinem Tod, 1989, löst die Wiederentdeckung des Romans mit 200 000 verkauften Exemplaren einen regelrechten Márai-Hype aus. Er hat zwei Verfolgungen überstanden, zuerst unter den Nazis und dann unter den ungarischen Kommunisten, er verließ Ungarn, obwohl er sich zeitlebens als ungarischer Schriftsteller verstand, zog quer durch Europa bis nach Amerika, wo er sich niederließ. Er beging Selbstmord.
Die Kritiken von der Grazer Glut-Premiere hatte ich schon gelesen: »Seelenqual und Selbstanklage, Erstarrung oder Furor in fast Thomas Bernhard’scher Manier – all das zaubert … er mit Gesten, Blicken und prägnanter Raufaserstimme quasi aus dem Schauspielerärmel«, lobt der Kritiker der Kleinen Zeitung. Es wird auch in Wien eine bewegende Etüde eines hin- und mitreißenden Schauspielers.
Für dieses Jahr ist keine Regiearbeit vereinbart. In Düsseldorf hat er mit Molières Eingebildetem Kranken vor fünf Jahren seine letzte Schauspielregie hinter sich gebracht.
»Mich interessiert eigentlich nur das Musiktheater. Ich gehe auch nicht mehr ins Theater. Nur in die Oper geh ich gern, sehr gern. Musik ist meine Leidenschaft von Kindheit an.«
So sehr, dass er träumte, Opernsänger zu werden, bis er akzeptieren musste, dass die Stimme nicht ausreicht.
Wir verlassen vergnügt das Kaffeehaus und plaudern über die Zukunft. Helmuth ist körperlich fit, geistig flink und neugierig auf das Leben. Ich glaube, es wird immer so weitergehen. Vielleicht wünsche ich es auch nur.
In einem Monat wird Helmuth seine Wortbrüchigkeit fortsetzen und an der Josefstadt in einem Schnitzler-Stück spielen, das er auswendig kann, wie er sagt, weil er drei Mal die Hauptrolle gespielt hat: Er war am Burgtheater, in Zürich und im Theater in der Josefstadt der Hofreiter im Weiten Land, »die böseste Männerfigur, die je geschrieben wurde«, wie er meint. »Er hintergeht seine Frau nach Strich und Faden und knallt den jungen Nebenbuhler eiskalt ab, nur weil er den Blick der Jugend nicht erträgt.« Und nach einer Pause fügt er an: »Stark autobiografisch vom Schnitzler.«
Er verliert sich in Gedanken. Wahrscheinlich fällt ihm zu Schnitzler gerade wieder viel ein.
Nach einer Weile setzt er fort: »Die Burgtheater-Aufführung, die der Otti inszeniert hat, war die beste, mit der Jesserer als Genia, dem Muliar als Natter, der Nicoletti als Frau Wahl und dem Liewehr als Aigner, dem man wirklich geglaubt hat, dass er gebrochen ist, weil er leichtsinnig die große Liebe seines Lebens betrogen hat und damit alles zerstört hat.«
Rechts: Das weite Land, Theater in der Josefstadt, 1994 (Friedrich Hofreiter) mit Erwin Steinhauer Unten: Das weite Land, Akademietheater, 1978 (Friedrich Hofreiter) mit Gertraud Jesserer
Diese kleine, aber wichtige Rolle, die die titelgebenden Worte »Die Seele ist ein weites Land« spricht, wird Helmuth Lohner in der bevorstehenden, seiner vierten, Annäherung an Das weite Land zufallen. Er wird mit Langmut die Schnitzler-Inkompetenz des im Musical-Genre bewährten Regisseurs ertragen. Er wird Striche wichtiger Stellen hinnehmen, obwohl dadurch eine Charakterisierung seiner Figur unmöglich wird. Er wird den Schnitzler-Ton, die Schnitzler-Haltung, vermissen und wird nur zu Gertraud Jesserer nach einer Probe leise zischen: »Sooo g’hört’s nicht.«
Es wird zum Glück noch nicht seine letzte Rolle gewesen sein. Er spielt buchstäblich bis zum Umfallen, und sogar nach der schweren Krebsoperation bewältigt er die vorher zugesagte, besonders schwierige Rolle in Heiner Müllers Zweipersonenstück, das irreführend Quartett heißt. Ein für österreichische Ohren sperriges Textgebirge. Lohner hatte Heiner Müller oft in Berlin in der Paris Bar getroffen, wo der DDR-Starautor die West-Künstler mit scharfer Dialektik und dicken kubanischen Zigarren beeindruckte. Es ist die Erfüllung eines Lebenswunsches, den Lohner mit Elisabeth Trissenaar seit Ende der 1980er-Jahre hegte, als sie Klaus Maria Brandauers Buhlschaft und er abwechselnd Teufel oder Tod war, einmal miteinander in der Regie ihres Mannes Hans Neuenfels zu spielen.
Definitiv kein Lebenswunsch von Helmuth Lohner war es, eine Autobiografie zu schreiben. Mit der flapsigen Begründung »Die Leut’ wollen doch nur lesen, mit welchen Frauen ich was g’habt hab« und mit der ernsthaften: »Ich bin nicht wichtig genug und ich will mich auch nicht wichtig nehmen«, hat er das Ansinnen stets abgelehnt. Während seiner Direktionszeit – etwa um die Jahrtausendwende – hat ihn jemand dazu gebracht, eine »oberflächliche vorläufige Vita« zu beginnen. Nach zweieinhalb Seiten beendet er den Versuch: »Mir fällt solch ein Bericht meiner Natur entsprechend sehr schwer, da man leicht in Klippen des Eigenlobes gerät, denn das Gespenst der Eitelkeit ist kaum zu vertreiben. Vielleicht beginne ich eines Tages, wenn die Zeit reichlicher vorhanden ist, mein Leben zumindest schriftlich zu ordnen – die Erlebnisse, die Begegnungen, die Niederlagen und die eventuellen Höhepunkte. Bis jetzt war alles nur ein ziemlich makabrer Spaß.«
Er hatte außerdem ein gespaltenes Verhältnis zur Vergangenheit. In meinem JosefStadtgespräch sagte er 2008: »Ich habe alle Bilder aus meiner Jugend weggeschmissen. Ich will nicht sehen, was einmal war, neugierig bin ich, was in der nächsten halben Stunde passiert. Ich zehre nicht von Erinnerungen.« Einerseits. Und andrerseits hat er nichts vergessen. Er konnte bis ins kleinste Detail präzise Angaben über Rollen, Partner, Regisseure, Datum und Ort eines Jahrzehnte zurückliegenden Ereignisses machen.
Er war ein bedeutender, hoch talentierter, hoch gebildeter, hoch sensibler Mann und ein zwischen Himmel und Hölle, zwischen Glaube und Zweifel, zwischen Melancholie und Humor Zerrissener, ein rastlos Getriebener, der souveräne Ruhe ausstrahlte. Ein Suchender, ein Einsamer, ein Humanist, ein Pessimist. Ich will versuchen, ihm in all seiner Widersprüchlichkeit gerecht zu werden, seinen verborgensten und verstricktesten seelischen Komplikationen nachzuspüren. Trotz meiner Empathie und meiner Wertschätzung für diesen außergewöhnlichen Mann werde ich mich bemühen, den Verhaltenskodex für verantwortungsvollen Journalismus, das Prinzip der gemessenen Distanz einzuhalten, das da lautet: Mache dich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten. Also: keine Hymne, vielmehr der Spur der Wirklichkeit folgend. Es wird nicht leicht.
Das Spiel beginnt
1933 bis 1965
Überschattet vom Zweiten Weltkrieg verläuft seine Kindheit. Im fatalen Jahr 1933 geboren, wächst Helmuth Lohner in den grauen Hinterhöfen des Arbeiterbezirkes Wien-Ottakring auf. Die Volksschule in der Wiesberggasse und die Hauptschule in der Lorenz-Mandl-Gasse kann nur unregelmäßig besucht werden. Ein Schock, als ein amerikanisches Kriegsflugzeug über ihm und seinen mit ihm im Liebhartstal streunenden Freunden abgeschossen wird. Todesangst. Einen Luftschutzkeller wollen sie trotzdem nicht aufsuchen.
Nach Kriegsende spielen die Kinder auf den Schutthalden der zerbombten Häuser und im Staub der Straßen um den Stillfriedplatz. Armut. Lebensmittelrationierung. Er stiehlt von der russischen Besatzung ein paar Zigaretten, die die Mutter für einen Laib Brot und ein Ei eintauschen kann. Er entwendet Handgranaten, die er mit seinen Freunden im Donaukanal ins Wasser wirft, damit sie nach der Explosion ein paar tote Fische fangen können.
Einmal kann die Mutter mit großer Mühe ein paar Groschen erübrigen, um dem Sohn Butter auf das trockene Brot zu streichen. Er legt das Butterbrot einem ebenfalls hungernden Freund in den Briefkasten. Als die Mutter draufkommt, schlägt sie ihren