Verena Themsen

Elfenzeit 4: Eislava


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so.«

      Seltsam, dachte David. Warum sollte jemand einen Schatten aus Annuyn holen und dann ohne Auftrag loslassen? Er sprach seine Gedanken nicht aus, weil er Rians Konzentration nicht unterbrechen wollte. Außerdem vermutete er, dass sie dieselben Gedanken verfolgte wie er. Vielleicht hat derjenige, der den Schatten geholt hat, die Kontrolle über ihn verloren? Vielleicht war es sogar die Schwarmmutter selbst?

      Aber nein. Wesen wie die Nöcks beschäftigten sich nicht mit der Nekromantie, und nur diese konnte den Zugriff auf Elfenschatten ermöglichen.

      Rians Hände glitten über den massigen Körper der Nöckmutter. Sie tastete die Stellen ab, an denen der Schatten sichtbar daraus hervordrang, und David sah Gänsehaut über ihre Arme laufen. Dennoch zuckte sie nicht zurück, sondern lehnte sich vor und breitete ihre Arme aus, um so viel vom Körper der Nöckmutter zu umfassen wie möglich.

      »Jetzt«, sagte sie.

      David trat dicht zu ihr und legte seine Arme um Rian, ehe er die Augen schloss und sich auf das Band zwischen ihnen konzentrierte. Er spürte ihre unterdrückte Angst, aber auch Neugier. Sie wollte wissen, woher der Schatten kam, und ob sie das erreichen konnte, was sie sich vorgenommen hatte.

      Ich halte dich, Rian, dachte er konzentriert. Ich lasse dich nicht noch einmal gehen.

      Rian bewegte sich nicht mehr, und er spürte Kälte über sie kriechen. Langsam hoben sich die feinen Härchen an ihren Armen, die Schauer krochen weiter über ihren Körper, während sie immer heftiger zu zittern begann. Davids Arme prickelten von der Kälte, die sich auf ihn übertrug, und unter anderen Umständen wäre er versucht gewesen, loszulassen. So aber zog er sie enger an sich, mit seinen Armen und über das geistige Band zwischen ihnen. Er spürte auch darin die Kälte. Sie berührte Rians Geist und versuchte, ihn zu lähmen. Doch die Prinzessin zog sich zurück, kapselte sich ein gegenüber dem Schatten und blieb nur dort offen, wo sie mit David verbunden war. Langsam ging das Beben in eine Starre über, und der Prinz spürte, wie sie das Leben in ihrem Körper bewusst immer weiter eindämmte und zugleich mit der Kraft, die er ihr gab, den Schatten an der Oberfläche ihres Geistes hielt.

      Überraschtes Murmeln und Gurgeln klang auf, und David öffnete die Augen. Was er sah, ließ Erinnerungen auf ihn einstürzen, die ihn lähmten. Ein goldenes Wabern hing neben Rian und der Schwarmmutter in der Luft. Er hatte dieses Leuchten schon einmal gesehen. Nicht mit den Augen, nein … seine Augen waren vor Erschöpfung geschlossen gewesen. Doch sein eigener Schatten war davon angezogen worden, und er verspürte den Sog auch jetzt. Er spürte hinter dem goldenen Leuchten, das immer mehr von seinem Blickfeld einnahm, die Verlockung des Loslassens, der Erlösung von allem, was ihm Sorgen machte.

       Geh nach Annuyn, dorthin kann dir keine Seele folgen. Löse dich, lass dich forttreiben …

      Ein warmes Pulsieren war in dem Licht zu sehen, ehe es sich auseinanderzog und den Blick in ein ebenmäßiges Grau frei gab, in dem es keine Fragen und keine Leiden mehr gab. Einfach nur Ruhe, und sich treiben lassen.

      Gewaltsam riss David seinen Blick los und drehte den Kopf weg.

       Rian!

      Schlaff hing sie in seinen Armen, das Band zu ihr wirkte seltsam unwirklich, wie Stoff, der zu lange der Witterung ausgesetzt wurde. Er erkannte, dass er sich hatte ablenken lassen. Der Schatten wurde unaufhaltsam vom Tor angezogen und hatte sich halb aus Rian gelöst. Entweder klammerte er sich noch zu sehr an Rian fest, oder aber sie spürte den Sog des Leuchtens noch stärker als David, denn Rians Schatten löste sich ebenfalls.

      »Rian!«, rief David laut. »Rian! Halt dich fest! Bleib hier! Bleib bei mir!«

      Er griff nach ihr aus über das brüchige Band, versuchte, es mit seinem Geist wieder zu stärken, die Fäden nachzuweben und zu sichern. Rian öffnete die Augen, doch sie waren glasig und starrten in das Leuchten. David schob sich neben sie, ohne sie loszulassen, legte die Hand an ihr Kinn und zwang ihren Kopf zu sich herum. Ihr Widerstand war gering, aber spürbar. Er sah sie an, auch wenn es für ihn bedeutete, wieder auf das Leuchten zu sehen. Doch es interessierte ihn nicht mehr.

      »Rian, sieh mich an«, forderte er. »Sieh mich an! Geh nicht!«

      Sie sah ihn an, ohne ihn wahrzunehmen. Der fremde Geist hatte sich inzwischen fast gänzlich gelöst, und seine Schlieren hingen lang auseinandergezogen zwischen dem grauen Schimmern knapp über Rians Haut, das ihr Schatten war, und dem Grau Annuyns.

      »Rian, du gehörst dort nicht hin«, rief David beschwörend. »Du gehörst hierher! Nach Earrach, nach Crain! Kämpfe dagegen an! Bleib bei mir! Du gehörst nicht zu Samhain, du gehörst zu mir!«

      Das schwache Heben und Senken ihrer Brust war das einzige Zeichen, dass sie noch lebte. Dann blinzelte sie kurz und bewegte die Lippen. David lehnte sich vor.

      »Tu ich das?«, flüsterte sie.

      Ein noch dunklerer Schatten huschte jenseits des Tores vorbei, und als hätte etwas die schwarzen Fetzen gepackt und zöge daran, rasten die Reste durch das Loch hindurch. Kaum war die letzte Spur des fremden Geistes on Annuyn, stürzten die Ränder zusammen. Für einen Augenblick bildete sich ein grell aufleuchtender goldener Punkt, dann verschwand auch dieser.

      Rian blinzelte erneut und runzelte die Stirn.

      »David?« Sie klang erstaunt, als habe sie nicht erwartet, ihn zu sehen.

      »Rian?«, gab David mit von Erleichterung genährter Belustigung zurück.

      Sie versuchte, sich aufzusetzen. »Du kannst mich jetzt wieder loslassen«, bemerkte sie.

      »Wenn du darauf bestehst …« David öffnete die Arme. Ihre Haut fühlte sich wieder warm und weich an. Keine Spur der Kälte war zurückgeblieben.

      Jubelgeräusche brachen um sie herum aus, die Luft in Perlen aufsteigen ließ, glänzend durch das Licht der Pflanzen. Gurgeln und Pfeifen erfüllte die Luft, Töne, die von höchsten Höhen in tiefste Tiefen und wieder zurück schwankten. David sah auf die Schwarmmutter. Die Schlieren waren gänzlich verschwunden, und auch wenn ihr Körper noch immer Anzeichen der Schwächung aufwies, kam es ihm so vor, als würden die Schuppen bereits heilen.

      »Wir danken euch!«, rief einer der Nöcks.

      »Ihr habt uns geheilt!«, fiel ein anderer ein.

      »Und wir werden unser Wort halten und euch weiter helfen«, ergänzte ein Dritter.

      »Sobald ihr es wollt.«

      David musterte Rian. »Wie geht es dir? Willst du dich ein wenig ausruhen?«

      Sie schüttelte den Kopf, strich sich über das Haar und rückte ihre Jacke zurecht, die durch die Ereignisse etwas in Mitleidenschaft gezogen worden war. Mit Bedauern im Blick sah sie einigen Pailletten nach, die sich gelöst hatten. »Mir geht’s gut. Eigentlich möchte ich möglichst schnell ins Trockene und Warme.«

      David nickte. »Bringt uns bitte zurück zu unserem Schiff und helft uns, so schnell und weit wie möglich nach Norden zu kommen.«

      »Wir können euch ein ganzes Stück weit von der Tidenwelle tragen lassen. Wir verstärken sie in der Nacht, sodass sie euch den Fluss hinaufträgt.«

      David hatte den Überblick verloren, welcher Nöck wann was sagte, und wann ihre Sätze ineinander übergingen. In Wirklichkeit, das wurde ihm klar, sprach ohnehin die ganze Zeit nur eine – Nöck-Nareva.

      »Wir möchten euch aber noch etwas schenken.« Die Schwarmkönigin streckte eine Hand aus, und eine durchsichtige Kugel schwebte auf sie zu, die nur dadurch zu sehen war, weil sie das Licht in der Bewegung anders brach. Die Nareva nahm die Kugel in beide Hände. Langsam schrumpfte sie und wurde dabei milchig. Die Hände berührten sich, doch die Nareva führte die Handflächen weiter zueinander. Als sie die Hände wieder öffnete, lag eine Perle von perfekter Form darin. Sie reichte sie Rian.

      »Diese Perle ist Wasser, wie ihr es von hier kennt, Wasser, in dem ihr atmen könnt und das euch Schutz geben wird, gegen viele Dinge. Es soll der Dank sein für das, was ihr getan habt.«