Verena Themsen

Elfenzeit 4: Eislava


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ihn, und er strich sich mit einer Hand durch das Haar und schüttelte den Kopf.

      »Entschuldige, Rian. Ich wollte nicht mit dir streiten.«

      »Sondern mit ihnen, ich weiß«, antwortete sie mit einem schiefen Lächeln, das den verletzten Blick jedoch nur schwach kaschieren konnte.

       Warum scheint es, dass ich die, die mir am nächsten stehen, am meisten verletze?

      Wieder spürte er das leise Ziehen in seiner Brust. Eine Seele. Für was konnte so eine Seele schon gut sein? Früher hatte er sich nie Gedanken über andere gemacht. Seine Gefühle, sein Wohlbefinden waren alles gewesen, was gezählt hatte. Er hatte in den Tag hinein gelebt, zu seinem eigenen Vergnügen, und nichts anderes hatte man von ihm erwartet. Selbst auf Rian hatte er keine besondere Rücksicht genommen. Aber jetzt … die Zeiten, da er sich um nichts Sorgen gemacht und für nichts Verantwortung übernommen hatte, waren vorbei. Denn Nadja und sein Kind brauchten ihn. Könnte er das, was schon gewachsen war, überhaupt wieder herausreißen?

      Er seufzte und sah zu den Wasserleuten. »Also gut. Was für ein Problem gibt es, und warum glaubt ihr, dass wir euch helfen können?«

      David sah sich aufmerksam in dem neuen Raum um, in den ihre Gastgeber sie geführt hatten. Er lag ein gutes Stück weiter innen in dem verschlungenen System von Tunneln und Hohlräumen, das dieses Volk im porösen Fels erschaffen hatte. Während die Ankunftshöhle völlig kahl gewesen war, verzierten in dieser lange Tangwedel die Wände, und in Muster geflochtene Netze hingen von der Decke. Einige davon trugen Schalen mit leuchtenden Pflanzen, andere fungierten als Sitzgelegenheiten, in denen David, Rian und zwei der Wesen jetzt saßen. Glimmereinschlüsse in den Felsen rings herum brachen das Licht der Pflanzen und streuten buntschimmernde Strahlen in den ganzen Saal.

      Am hinteren Ende des Raums erkannte David ein breit ausgespanntes Geflecht, in dem ein weiteres der Wesen ruhte. Es war fast doppelt so groß wie die anderen, und deutlich runder, fast schon aufgequollen. Schlierige Schatten, die nicht vom Zwielicht des Raumes herrühren konnten, waberten wie treibende Schleier um den Körper herum.

      »Wir sind Nöck-Nareva«, begann einer der beiden Wassermänner, die bei ihnen saßen. »Und dort vorn liegt unserer aller Mutter, Nareva. Wir fürchten, sie wird sterben.«

      »Und wenn Nareva stirbt, stirbt Nöck-Nareva«, fuhr der andere nahtlos fort.

      Erneut sah David zu der Nöck-Schwarmmutter. Waren die Schatten, die sie umschwebten, ein Auswuchs ihres schlechten Zustands?

      »Ist sie krank?«, fragte er.

      Die beiden schüttelten den Kopf.

      »Etwas hat sie befallen, das nicht von hier ist«, sagte der Erste.

      »Wir denken, es kommt aus dem Totenland«, fuhr der andere fort, und der Erste setzte hinzu:

      »Und du trägst einen Hauch desselben Todesschattens.«

      Erstaunt sah David zu den Nöcks, doch sie schauten Rian an, nicht ihn. Mit einem Ruck drehte er den Kopf zu seiner Schwester, und sie zuckte die Achseln. Was die Nöcks gesagt hatten, schien Rian nicht zu erstaunen.

      »Die anderen haben mir vorhin schon etwas Ähnliches gesagt«, erklärte die Elfe. »Nach dem Durchgang haben sie kurz angehalten, um mir zu erklären, dass sie meine Hilfe bräuchten. Sie meinten, sie hätten mich ausgesucht, weil ich die Ausstrahlung Annuyns noch an mir tragen würde, und dass das Überleben ihres ganzen Volkes davon abhinge. Darum wollte ich es zumindest versuchen. Immerhin sind sie genauso Teil von Earrach wie die Sidhe Crain. Als Kinder Fanmórs gehört es darum meiner Meinung nach zu unseren Pflichten, sie zu schützen, wenn wir es können.«

      David nickte. »Natürlich.«

      »Nareva wird schnell schwächer«, meldete sich wieder einer der Nöcks. »Ihre Kräfte sind fast aufgebraucht. Verzeiht, dass wir so unvermittelt vorgegangen sind, aber …«

      »… wir fürchten, dass der Schatten sie jeden Moment ins Totenreich ziehen könnte.«

      »Und wenn Nareva stirbt, stirbt Nöck-Nareva. Wir haben Angst.«

      »Das sagtet ihr bereits, und ich verzeihe euch. Also vergessen wir den Teil.« David erhob sich aus dem Sitznetz. »Ich denke, wir sollten uns näher ansehen, was wir für Nareva tun können, oder, Rian?«

      Rian nickte und stand ebenfalls auf. Die beiden Nöcks stießen Luftblasen aus, in denen sich das schimmernde Licht fing, warfen ihre Arme hoch und und stießen sich dann direkt zum Lager ihrer Mutter ab. David und Rian folgten ihnen mit langsameren Schwimmbewegungen.

      Je näher sie dem Lager Narevas kamen, desto klarer spürte David, dass dort etwas verkehrt war. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass bei den beiden vor ihnen schwimmenden Nöcks an einigen Körperstellen die Schuppen matt und fleckig wirkten. An anderen hatten sie sich sogar gelöst, sodass die dünne weiße Haut durchschimmerte, unter der die Adern dunkles Blut trugen. War es das, was sie gemeint hatten, als sie sagten, mit Nareva würden auch die Nöck-Nareva sterben? Waren sie alle krank? Die Haut der Schwarmmutter wirkte matt und fleckig unter den schwarzen Schleiern, selbst aus der Entfernung. Ihr Zustand schien sich tatsächlich direkt auf den ihrer Kinder auszuwirken.

      Rian verharrte plötzlich.

      »Was ist los, Schwester?«, fragte David mit gedämpfter Stimme.

      »Ich spüre es. Den Schatten von Annuyn«, antwortete sie. »Sie haben Recht. Etwas von dort ist hier. Es ist … kalt. Formlos. Und es giert nach dem Leben, ohne sich zu erinnern, was es überhaupt ist.«

      David sah zu Nareva. Die schwarzen Schlieren, die sie umgaben, waberten in ihre Richtung, wie ausgreifende Finger. Die Nöcks hatten Recht gehabt mit ihrer Vermutung. Hastig ergriff er Rians Hände.

      »Ich bin bei dir. Ich lasse nicht zu, dass du noch einmal durch das Tor gehst.«

      »Aber das muss ich vielleicht, um Nareva zu retten«, flüsterte sie. »Um einen Todesschatten zurückzubringen, muss das Tor nach Annuyn geöffnet werden – und ich habe noch genug Verbindung, um das tun zu können. Sobald es offen ist, muss jemand den Schatten hinüberbringen.«

      David zog Rian an sich. »Dann lassen wir es. Sagen wir ihnen, dass es nicht geht, und ziehen weiter.«

      Rian schüttelte den Kopf. »Nein. Es muss einen Grund haben, warum ich hier bin. Auf dieser Reise geschieht nichts zufällig.«

      David wurde nachdenklich. »Jemand muss den Schatten hierher gerufen haben, und sobald er sein Werk hier verrichtet hat, wird er sich das nächste Ziel vornehmen. Das müssen wir verhindern, ich stimme zu. Aber wie sollen wir herausfinden, wer den Schatten gerufen hat?«

      »Ich werde den Schatten zu mir ziehen, ehe ich ihn durch das Tor bringe. In dieser Zeit kann ich auf seine Erinnerungen zugreifen.«

      David musterte seine Schwester. »Es könnte gelingen«, gab er zögernd zu. »Aber fühlst du dich stark genug dafür?«

      »Du musst mich halten, David, über unser Band. Unser Band muss stark genug dafür sein. Das ist es doch, oder?«

      Wieder stand dieser Zweifel im Raum, diese Angst, dass ihre besondere Verbindung Schaden genommen haben könnte. Der Beweis, dass sie verändert war, war durch Davids Überleben bei Rians Tod gegeben … aber war sie dabei geschwächt worden?

      »Es ist stärker denn je«, antwortete David.

      Sie lächelte ihn an und nickte dann in Richtung der Schwarmmutter, wo die Nöcks geduldig warteten. »Dann sollten wir ans Werk gehen.«

      Die schwarzen Schleier umflorten Rian, als wollten sie sie liebkosen. Mit geschlossenen Augen saß die Elfe im Netz neben der Schwarmmutter und streckte die Hände nach ihr aus. David stand hinter ihr, beobachtete jede ihrer Bewegungen und öffnete sich jeder Empfindung, die er von Rian empfing.

      Vorsichtig näherten sich Rians Hände der fleckigen Schuppenhaut. Sie war gelassen, und David spürte ruhige Gewissheit in ihr.

      »Ich spüre es«, flüsterte Rian. »Es ist verwirrt.