Michael Dangl

Anfisa, zu Dir


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       MICHAEL DANGL

      Anfisa, zu Dir

       Brief an meine Tochter

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      Mit Illustrationen

      von Anfisa Margarita Dangl

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      Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

      © 2020 by Amalthea Signum Verlag, Wien

      Alle Rechte vorbehalten

      Umschlaggestaltung: Valence, www.valencestudio.com

      Umschlagabbildungen: Schrifthintergrund © Michael Dangl, Herzillustration © Anfisa Margarita Dangl, Rahmen

      © Shutterstock

      Illustrationen im Buch: © Anfisa Margarita Dangl

      Lektorat: Helene Breisach

      Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz

      GmbH, Heimstetten

      Gesetzt aus der 10,25/14,04 pt Verdigris MVB Pro Text

      Designed in Austria, printed in the EU

      ISBN 978-3-99050-190-0

      eISBN 978-3-903217-69-0

      Kinder heilen die Seele

      F. M. Dostojewskij

      Liebe Anfisa,

      es ist Montag, der sechzehnte März und seit heute soll man nur mehr auf die Straße gehen, wenn man einen Grund dazu hat. Das war eigentlich immer so, doch seit heute kümmert sich die Polizei darum. Mal sehen, ob mein »Ich muss in der Sonne sein« akzeptiert wird.

      Zusätzlich habe ich aber sogar eine kleine Arbeit, eine Aufnahme für einen Film über Mysterien des Untersbergs bei Salzburg, in dessen unheimlichem Schatten ich aufgewachsen bin und den auch Du schon gesehen hast, wenn wir vom Westen, aus Bayern gekommen sind oder die Stadt in Richtung Süden verlassen haben.

      Es gibt dort Höhlen, durch die man in »Zeitlöcher« geraten kann, Räume, in denen die Zeit dreihundertmal langsamer vergeht als in der Welt draußen. Wenn man zum Beispiel nur eine Minute drin ist, bedeutet das für alle Menschen, die nicht im Berg sind, dreihundert Minuten, also fünf Stunden. Wenn man hingegen eine Stunde drin war, sind draußen fast zwei Wochen vergangen. Es ist, wie wenn Du am Autorücksitz wartest, bis endlich das Meer zu sehen ist. Da vergeht Dir die Zeit auch viel langsamer, als wenn wir Ball spielen oder Eis essen. Oder wenn ich hier in Österreich eingesperrt bin und nicht zu Euch darf.

      Mein Theater ist seit einer Woche zu. Fast hätte ich noch Premiere gehabt. Wir wissen nicht, wann wir wieder spielen dürfen. Die Situation ist schwer und wir müssen aufpassen, heißt es, dass es nicht wie in Italien wird. Unser Italien, Anfisa. Ob wir diesen Sommer hinfahren können?

      Zum Glück bist Du seit (genau) einem Monat zehn und verstehst alles. Auch, warum ich nicht kommen kann. An Deinem Geburtstag war ich das letzte Mal bei Euch. Das war eine schöne Feier, die Mama organisiert hat, mit dem Clown, den Liedern und Tänzen Deiner Freunde und den Torten und Deiner neuen Uhr, auf die Du stolz alle paar Minuten geschaut hast.

      Aus Sehnsucht und um wenigstens so mit Dir in Verbindung zu sein, habe ich begonnen, Dir zu schreiben. Vielleicht kann ich mich dadurch in eine Art Untersberg-Zeitloch (ver)setzen und, wenn ich fünf Stunden geschrieben habe, sind draußen zwei Monate vergangen und alles ist vorbei.

      Da wir gerade keine Gegenwart zusammen haben, gehe ich ein wenig in die Vergangenheit, in die Erinnerung an Deine ersten zehn Jahre und an das, was uns in ihnen gemeinsam war. Es war zu wenig. Und daher besonders kostbar. Wie eine Pizza, die wahnsinnig gut schmeckt, aber – eigentlich immer – zu klein ist.

      Die Ränder lasse ich, wie Du bei der Pizza, übrig. Die saftigen, zartschmelzenden, heißen Bissen aber – die lassen wir uns jetzt zusammen auf der Zunge zergehen.

      Guten Appetit!

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      Als Du auf die Welt kamst, hattest Du schon einiges hinter Dir. Du warst seit neun Monaten bei uns gewesen, noch nicht sichtbar, aber für Deine Mama mehr und mehr fühlbar, und auch ich konnte, wenn ich meine Hand auf ihren Bauch legte, die ersten Turnübungen Deiner gerade erst entstehenden Gliedmaßen spüren. Eigentlich war das damals Dein erster Swimmingpool, Dein erstes »Plutschbecken«, wie wir es heute nennen, um Maus Buxi zu ärgern, und vielleicht tauchst Du unbewusst wieder zurück, in die sorglose, schwerelose Geschütztheit des verlässlich beheizten Mamapools, wenn wir in ein sommersonnenwarmes Schwimmbecken steigen.

      Jedenfalls warst Du, bevor Du auf die Welt heruntergekommen bist, viel herumgekommen. Warst in Japan, Österreich, Deutschland, Italien, Polen, Frankreich, Russland … also in Tokyo, Wien, Salzburg, Graz, Berlin, Venedig, Warschau, Paris, Sankt Petersburg, Moskau … bist geflogen, Bahn und Schiff und Auto gefahren und auf dem Fahrrad über steirische Weinberge und Apfelbaumhaine gesaust, hast Zarenschlösser und Ritterburgen besucht, auf Bauernhöfen und in Thermenhotels gewohnt, hast Nikolaus Harnoncourt »Porgy und Bess« dirigieren und ihn mit Mama sprechen gehört, viel, sehr viel Flötenmusik vernommen – solistische, mit Orchester – und manche nächtliche Gespräche Deiner Eltern in der Moskauer Uliza Begowaja und später, als das Leben in Erwartung Deiner Ankunft ruhiger gestellt wurde, in der Wiener Uliza Wurlitzer.

      Deine Geburtsstunde fiel in eine frostige Februarnacht, viel Schnee hatte sich schon seit längerem aufgetürmt, um Dir die Landung weich zu machen. Vollkommen war die Stille um die Klosterneuburger Babyvilla (die wirklich so heißt), und in ihr auch, denn Dein Erscheinen geschah, wie sonst?, konkurrenzlos. Du warst die einzige Geburt dieser Nacht, und die Zimmer neben den unsrigen, mehr die eines Hotels als einer Klinik, waren leer. Vorhergesagt warst Du für einen Tag später, und es sprach damals schon für Dein Temperament, dass Du es nun endlich wissen wolltest.

      Wiewohl Du Dich dann, als es ernst wurde, mit Händen und Füßen wehrtest – wie heute, wenn Du stundenlang nicht aus dem Pool zu bewegen bist. Ich stand draußen mit dem wievielten Becher Kaffee und war bei aller Aufregung ruhig, weil ich spürte, es würde gut gehen. Ich hatte die Träume vor mir, in denen Du mir all die Monate vorauserschienen warst, schwebend von oben her, immer leicht, hell, lächelnd. Einmal hast Du mir gar zugezwinkert. Wir zwei waren auf diese Weise bereits in Kontakt, und es war auch kein Neu-Sehen, mit dem unsere Augen einander trafen, als ich Dich kurz nach dreiviertel eins in Händen hielt, sondern – wenn kein Wieder-Sehen, so doch ein Endlich-richtig-Sehen, wie von zweien, die vor ihrer ersten Begegnung schon oft miteinander telephoniert hatten, Traumbild-telephoniert.

      Das Erste, das ich zu Dir sagte, war nicht veröffentlicht für alle im Raum, sondern privat, Dir in die Augen und ins Gemüt. Dein Blick blieb ernst, wach, konzentriert auf mich, und ich sah – auch wenn Wissenschaftler das natürlich bestreiten würden – dass Du mich verstandst. Deshalb soll es auch unter uns bleiben. Ich wiederholte es noch einmal, in einer theatralisch-dramatischen Aufwallung, und war sehr gerührt, dankbar, glücklich. Es gibt keinen vergleichbaren Moment im Leben zu dem, in dem du dein erstes Kind in Händen hältst und ihm in die Augen siehst. Du wirst älter und jünger zugleich, und obwohl es auch davon erzählt, dass du endlich bist, macht es dich auf eine bis dahin nie dagewesene Art lebendig. Ein Sinn erfüllt sich. Nur, indem du etwas hinterlassen wirst, bist du wirklich da.

      Das alles denkt man in diesem Augen-Blick nicht, man empfindet es, und versteht die Empfindung erst viel später. Immer versteht man alles später, und empfindet zuerst. Das ist eine gute Reihenfolge. Denn so wichtig alles Verstehen ist: es muss mit dem Herzen zusammenhängen, sonst ist es keins.

      Einige Stunden dieser Nacht lagst Du auf mir, wie ein lebendiger, atmender, duftender, warmer Laib