Michael Dangl

Anfisa, zu Dir


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mahntest erst, als die Männer zu den köstlichen litauischen Spirituosen übergingen, zum Aufbruch. Auch zu deren Schutz.

      Kinderpsychologen werden jetzt vielleicht aufschreien. Manche gar sagen, ich hätte Dir damit ein frühkindliches Trauma bereitet. Aber ich habe nur zweimal freundlich »Pst« gesagt. Der Rest, das meiste, spielte sich zwischen unseren Augen ab und war getragen von Deiner großen Intelligenz, Deiner Achtsamkeit, Deinem bei einem Neugeborenen wohl nur schwer vorstellbaren Bewusstsein, dass ein Konzert, eine Vorstellung etwas Besonderes, etwas Unantastbares, man kann durchaus sagen: etwas Heiliges ist, das von Profanitäten freigehalten werden soll. Dass die Kunst etwas Höheres ist als unsere Triebe. Dass zur Kunst Arbeit gehört. Und, ja, dass der Papa einer ist, der es halt manchmal einfach ruhig haben will.

      Und dass der Papa einer ist, mit dem man nicht lange zu Hause sitzt, hast Du auch in dieser Deiner ersten Reisewoche erfahren. Lagen wieder ein paar Stunden vor uns, in denen Du meiner Obhut anvertraut warst, gab es, obwohl in Litauen noch – ein sehr milder – Winter war, nur eins: hinaus. Wie schön, wenn dann aus dem Grau des Himmels die Sonne brach und dem baltischen Strand eine Ahnung von Italien gab.

      Wie ich auch jetzt, da ich dies schreibe, die Ausgangsbeschränkungen auf mich selbst sehr großzügig anwende. In der zu Ende gehenden ersten Woche war ich viel mit dem Fahrrad unterwegs, bin lange im Stadtpark gesessen und im Gesicht richtig braun geworden. Alle einschränkenden Maßnahmen sollen noch bis Ostern gelten. Noch drei Wochen. In denen ich nicht Theater spielen und kein Schnitzel essen gehen darf. In denen ich möglichst niemanden treffen soll. Und, das ist das ganz besonders Gemeine: Gerade jetzt, wo wir so viel Zeit füreinander hätten wie kaum einmal, darf ich nicht fliegen. Ich darf nicht zu Euch, Ihr nicht zu mir. Wie lange das noch dauern wird, weiß keiner.

      Hoffen wir, dass Eure überraschenden Ferien – die Schließung des Mariinskij-Theaters und Deiner Schule –, in denen zu Hause gelernt beziehungsweise Flöte gespielt werden muss, die Krise nicht so groß werden lassen wie in anderen Ländern der Welt. Gut, dass erst März ist. Denn spätestens im Mai will ich Euch besuchen, und im Juli wollen wir zusammen nach Italien und in den Pool.

      Das kühlere Wetter, das eine Woche dauern soll, wird machen, dass die Leute noch braver zu Hause sitzen und ihre Bewegung aufs Internet beschränken. Für die sogenannte Datenautobahn ist die »Krise« jetzt schon der große endgültige Sieg. Leben darf überhaupt nur mehr virtuell geschehen: so ein Blödsinn.

      Ich weiß, dass diese Maßnahmen im Moment nötig sind. Aber ich habe Angst, dass sich die Leute daran gewöhnen. Und daran gewöhnen, in ihrer Freiheit eingeschränkt und überwacht zu werden.

      Gleichzeitig mit dem Zuklappen des Gewohnten ist hier der Frühling aufgebrochen. Alles blüht und duftet und ruft nach Leben. Dass Dein Geburtstag am Ende des Winters lag, hat gemacht, dass die ersten Bilder, die Deine aufgehenden Augen erreicht haben, die der erwachenden Natur waren, helle, freundliche, mutmachende Bilder. Ein großer Anfang auch außerhalb von Dir. Bei Mama und mir war es genauso gewesen – Dein Geburtstag liegt ja sechzehn Tage nach meinem und zehn vor Mamas, also in der Mitte, und ein bisschen näher zu Mama – wie Du, wenn Du in unserer Mitte im Bett lagst.

      Im westlichen Horoskop bist Du ein Wassermann. Also wie Dein Vater ein »optimistischer Exzentriker«, wie das Sternbild manchmal beschrieben wird. Im chinesischen ein Tiger. Leidenschaftlich und abenteuerlustig, heißt es. Im indianischen ein Otter, flink und behände in Deinem »natürlichen Lebensraum«, dem Wasser (!). Im Maya-Kalender gar ein Krokodil, das merke ich, wenn Du mich nicht aus dem Pool lassen willst. In Afrika würde Dir, ja, der Bernstein zugeordnet. Schillernd und mit vielen Facetten. Im keltischen Baumhoroskop entspricht Dir die Ulme, sommergrün mit tiefen Wurzeln. Das nächste Mal zeige ich Dir den Lebensbaumkreis mit der schönen Adresse »Am Himmel«.

      Richtig in Wien gelebt hast Du bisher nur in Deinem ersten Frühling und Sommer, nach einem halben Jahr schon tauschtest Du die Uliza Wurlitzer – an die Du dich heute nicht mehr erinnern kannst – gegen die Uliza Begowaja. Und richtig ruhig war auch dieses erste halbe Jahr nie. Von Bernsteinland zurück, waren wir gerade einen Tag zu Hause, schon fuhren wir nach Burgenland zu einem Konzert. Ich probte in den folgenden Wochen ein Stück, für das ich viel Klavier üben musste, hatte oft Vorstellungen und bereitete einen größeren Dreh vor. Mama, die von der »Musikstadt« bisher den Musikverein, das Theater an der Wien und das Hotel Sacher kannte, schob dich nun durch das mondäne Ottakring – auf die Avenue Albrechtskreithgasse, in den Boulevard Wattgasse und über die Prachtmeile der Hernalser Hauptstraße – und las auf ihrem ersten kleinen Smartphone in nachgeburtlicher Aufgewühltheit und Sehnsucht ganze Romane von Dostojewskij. Um weiter ihr Instrument üben zu können, wurde sie von Njanjas entlastet – gar nicht so kurz hielt sich eine Frau Grimm, bis wir draufkamen, was hinter ihren gar nicht märchenhaften Spaziergängen mit Dir stand: Sie unterbrach diese nämlich gerne, setzte sich ins Innere der »Cafeteria« eines Kaufhauses, stellte Dich im Kinderwagen neben sich ab, trank Kaffee und – rauchte. Dann brachte sie Dich aus der »frischen Luft« zurück. Bye-bye, Frau Grimm.

      Luftiger waren natürlich die Stunden mit mir. Auf dem Weg zum Kongreßpark schliefst Du durch das Gerütteltwerden im Kinderwagen ein, ein Zustand, den ich, wie immer an Bäumen in der Sonne schreibend oder Text lernend, durch Rütteln Deines Schlafkokons verlängerte. Wachtest Du auf, gab ich Dir das Fläschchen. Meistens gelang das. Nur einmal habe ich den richtigen Moment verpasst und Du schriest den ganzen Weg nach Hause, als wäre ich ein Fremder und hätte Dich entführt.

      War ich alleine mit Dir in der Wohnung, spielten wir oft »Anfisa fliiiegt« – ich am Rücken liegend Dich mit den Händen über mich hebend, einer der vielen Momente, in denen Dein wunderbares Lachen auf mich fiel und unsere Traumbegegnungen sozusagen Wirklichkeit geworden waren. »Anfisa fliiiegt« bringe ich heute noch zusammen – im Pool, wo wir in den letzten Sommern zu wahren Akrobaten geworden sind.

      In jenen frühen gemeinsamen Nachmittagen merkte ich, wie stark Du noch in Verbindung mit der »anderen Welt« standst, aus der Du gekommen warst. Mitten im Spielen hieltst Du inne, zeigtest in die Luft und schautest recht verklärt etwas nach, was zum oder vom Fenster weg zu fliegen schien, wie manches Jesuskind bei Leonardo. Dass ich »es« nicht sehen könnte, kam für Dich gar nicht in Frage – oder war Dir egal.

      Vertrauen fassen konnten wir erst zu einer Njanja, die slawische Robustheit und slawischen Humor mitbrachte. Die Ukrainerin Genia blieb Dein Kindermädchen über lange Jahre – oft, wenn Du in Wien »zu Besuch« warst und wir wieder einmal unglaublich beschäftigt waren.

      Im Mai, mit drei Monaten – »Anfisa fliiiegt« – flogt Ihr nach Moskau. Babuschka, wie das ihre Natur ist, brachte Dir gleich etwas bei. Noch nicht Geige oder Klavier, aber – den Handschlag. Als ihr nach zwei Wochen zurückkamt, strecktest Du mir zum Gruß die rechte Hand aus dem Kinderwagen.

      Ihr packtet nicht aus – nur um, und wir flogen zu dritt nach Frankfurt zu Konzerten. Dort gab es eine russisch sprechende Betreuungsperson, die uns Dich nach einer Probe mit den Worten übergab: »Derschite waschu kaprisulku« – »Nehmen Sie Ihre kaprisulka« – ein Wort, das sich von selbst erklärt.

      Kurz nach meiner Premiere in Wien und meinem Drehbeginn transferierten wir Dich wieder nach Frankfurt zu den »Tierharmonikern«. Wir konzertierten in einem transparenten Zelt mitten im Zoo, draußen liefen Zebras und Giraffen herum, der Wundergeiger spielte außer Geige den Elefanten und hielt sich beim Sprechen die Nase zu. Papa war der Erzähler. Oma war mit und kümmerte sich um Dich, wir bewohnten ein schönes Schloss und Du lerntest meine Freunde Tony und Petra kennen – oder sie Dich, denn auch diese Reise liegt auf der dunklen Hinterbühne Deines Gedächtnisses. Dabei hast Du Dich dort, auf dem Himmelbett unseres Gemachs mit der hohen Decke und den edlen Stoffen, zum ersten Mal im Leben – Zeugen beschwören das – selbständig im Liegen umgedreht.

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      Gestern, Anfisa, habe ich im Zuge der Ausgangsbeschränkungen eine zweistündige Radfahrt unternommen und Deine