zu organisieren. Musiker müssen spielen, wie Du weißt, jeder Tag ohne ihr Instrument ist ein irgendwie verlorener, und ihr Orchester war nun schon lange ohne seine erste Flötistin gewesen. Zugleich war dieses halbe Jahr auch die längste Strecke unser beider, unser dreier Zusammenleben. Das mehr aus Kommen und Gehen besteht denn aus Kontinuität. Jetzt, da diese unwiederbringlich vergangene Periode in meinem Gedächtnis aufersteht, frage ich mich, ob ich sie genug geschätzt, in ihrer Einzigartigkeit genug genossen und ernstgenommen habe. Gehe ich durch den alten Taschenkalender, der mein Gedächtnis unterstützt, sehe ich dort lauter »Wichtigkeiten« notiert. Wichtigkeiten, auf deren gedachten Verbindungslinien sich mein und unser Leben abspielte, dessen Raster bildete, dessen Struktur. Es hat da wenig Lücken gegeben, das fällt mir besonders jetzt auf, in dieser weltumspannenden Krise, wo, was früher Lücken waren, sich auftun zu Löchern, zu Abgründen freier Zeit, die all unser bisheriges Leben mit allen Gewohnheiten, Gewöhnlichkeiten und Sicherheiten zu verschlingen drohen. Von den hundertachtzig Tagen eines halben Jahres waren hundertzwanzig durch Arbeitstermine – Aufführungen, Lesungen, Konzerte, Drehtage, Proben – in einem Dutzend verschiedener Städte und Orte und Länder in Trab gehalten, mit den entsprechenden Vorbereitungen und mancher Müdigkeit danach. Es ist dies das Schema meines Lebens seit … eigentlich von klein auf, denn wie Du weißt, waren auch meine Eltern ständig mit mir unterwegs, ich war, wenn kein Zirkus-, doch das Kind einer Truppe vazierender Komödianten. Deine Mutter ist die Tochter zweier Musiker, deren Arbeit ihr Leben geprägt hat und die den Alltag von Proben, Reisen und Konzerten ebenso »in die Wiege gelegt bekommen« hat, wie gesagt wird. »Arbeit geht vor«, dieses Credo, das aber weniger aus einer Dienstversessenheit als aus einer Art heiligem Künstlerernst hervorgeht, haben beide Familien, die Deinen Genpool (ja, das heißt so!) bestimmen, über ihre Haustüren oder eher auf ihre Planwagen gemalt. Diese Haltung wird seit Jahren versucht, auch Dir weiterzugeben, indem man Dir ein manchmal sehr forsch durchgetaktetes Programm von Klavier-, Kunst- und Schulunterricht abverlangt. Einerseits ist das richtig. Die Kunst muss dem Künstler zum Atmen werden. Sonst ist es keine, sonst ist er keiner. Trotzdem – in Rückschau auf die Periode vor zehn Jahren, die ich Dir eben in Bruchstücken geschildert habe, muss ich feststellen: Gewusst habe ich nicht wirklich, was da eigentlich gerade Großes mit meinem Leben passierte. Oder gewusst schon, aber nicht verstanden. Oder sogar verstanden, aber zu wenig oft einfach innegehalten – und es zugelassen, eingelassen in mich. Es mich so glücklich machen lassen, so dankbar, so staunend, wie es mich hätte machen können und vielleicht müssen.
Das ist es, was ich vermisse. Ich habe zu wenig gestaunt über das Wunder, das uns dreien passiert war und laufend im Begriff war, zu passieren, so gestaunt wie in der ersten Nacht und den ersten Tagen in der Klosterneuburger Babyvilla, wie in den Sekunden, da ich Dich, Du Wunder, überreicht bekommen habe und Dir in die Augen gesagt habe – was ich gesagt habe. Denn da waren diese ganzen Wichtigkeiten im Kalender, im Kopf, im Herzen und sonstwo. Da war die Rastlosigkeit. Da war der Aufrieb. Die Pflicht. Das Fortkommen. Der Aufstieg. Und natürlich die vielen schönen Erfüllungen unseres Berufs. Die Glücksmomente einer Vorstellung. Der Reifeprozess einer Figur, eines Charakters, einer Darstellung. Wie ist das alles unter einen Hut oder unter eine Narrenkappe zu bringen mit der Verantwortung für den Reifeprozess eines Kindes, eines wirklichen Charakters, eines realen Menschen, die dir in die Hände gelegt ist?
Die Ottakringer Zeit ist lange vergangen. Ich hoffe, ich habe sie nicht behandelt wie einen rosa Lutscher in Herzform, den man achtlos auf die Straße geworfen oder versehentlich fallen gelassen hat. Ich hoffe, ich wurde ihr zumindest im Ansatz gerecht. Ich hoffe, die Farben Deines ersten Lebenshalbjahres haben Dir Lust auf die Welt gemacht. Denn das habe ich von Anfang an als meine Chance gewittert: Dir, im Gegensatz zu Häuslichkeit und Permanenz, die nicht so meine Sache sind, zu zeigen, wie bunt die Welt ist. Wie frisch, wie neu, wie aufregend, wie farbig.
*Das schöne russische Wort für »Vorstellung«
*Russisch für »Hut«
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