Michael Dangl

Anfisa, zu Dir


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Räume des Spitals, auf der Suche nach Mama, die sie für irgendeine Notwendigkeit mit ihrem Bett weggerollt hatten und deren Rückkehr ich jede Minute erwartete. Das war unsere erste gemeinsame Wanderung, unsere erste progulka. Nachts, Du an mich gepresst, in einem fremden, dunklen Reich, einem Wald aus leeren Betten und Arztschränken. Wir kehrten zurück und nahmen unsere Liegeposition wieder ein und schliefen Brust an Brust. Doch meistens lag ich wach und staunte Dich an. Bis ich Dich Mama übergeben konnte.

      Oma und Opa kamen aus Salzburg, sprachlos und in meiner Erinnerung geradezu »unscharf« vor Rührung (wohl durch meine eigene und den dadurch getrübten Blick), sie kamen nur, um Dich und uns für ein, zwei Stunden zu sehen, und fuhren gleich wieder zurück. Möglich, dass sie die Heimreise auch in der Wachau unterbrachen, wo sie dreiundvierzig Jahre vorher, indem sie Deinen Vater, mich, zeugten, sich selbst zu Eltern gemacht hatten. Die russische Oma, Babuschka, blieb für Dich zunächst ein verwackeltes Bild am Computer, eine lachende Dame in einer Sankt Petersburg geheißenen Ferne.

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      Die erste leibhaftige Übersiedelung Deines Lebens, der manche folgten und viele folgen werden, war in die nach Jukebox klingende Gasse nach Wien-Ottakring. Bereits in den ersten Tagen machtest Du bedeutende Bekanntschaften: mit einer freundlichen hakennäsigen Frau, die emsig an Dir herummaß und die Ergebnisse zufrieden in ein gelbes Heft schrieb, und mit einem schwarzgekleideten bärtigen Mann, der Dir mit einem wuschelnassen kleinen Besen ins Gesicht spritzte. Andere Laute kamen aus seinem Mund als aus dem Deines Vaters, aber sie glichen denen Deiner Mutter, wenn sie mit Dir allein war. Deine Eltern waren mit der seltsamen Prozedur einverstanden, ja offenbar hatten sie Dich eigens dazu hergebracht. Die Luft in der geheimnisvollen Höhle war rauchig und süß. Gold glänzte.

      Du bekamst Deinen ersten Reisepass (mit einem professionellen, wenn auch, wie wir alle fanden, unvorteilhaften Photo), und bald wurde auch die Dame aus dem Computer lebendig: Babuschka kam angeflogen, damals noch ausschließlich (nach ihrer Mutterrolle) Mamulja genannt. Ihre Babuschka-Weihen erhielt sie so richtig erst Jahre später, als Du und Mama nach Sankt Petersburg zogt.

      Noch keine zwei Monate warst Du, da gingst Du auf Reise. Wir flogen nach Vilnius und fuhren nach Klaipėda. Du natürlich in der »Mama Class«, fest an ihrer Brust. Doch während sie probte, trug ich Dich in dem »Babyschlinge« genannten Tuch den Strand auf und ab, so sahst Du, hörtest, rochst Du zum ersten Mal das Meer. Große Schiffe zogen vorbei, und ich zeigte Dir stolz jedes Stückchen Bernstein, das ich vom Sand aufhob – wenn Du nicht schliefst, denn Du schliefst viel zu dieser Zeit, viele Stunden trug ich Dich schlafend an der Küste, durch die Hafenstraßen, fragend beäugt von Menschen, in deren Alltag das noch nicht selbstverständlich war: ein Baby allein mit seinem Vater. Und, na ja, zum Essen, das noch ganz Trinken war, hatten wir ohnehin pünktlich zurück zu sein in der Musikschule, in der wir auch wohnten, zurück an der Brust der Flötistin, die Wolfgang Amadeus gern mitten im Takt unterbrach, wenn Anfisa Margarita Hunger hatte.

      Durch Dich war alles besonders und neu. Flaniert war ich früher auch. Nun hatte ich eine Verantwortung. Dass Du überall zugedeckt warst, dass Dich nichts zwickte, dass Du nicht zu schief in der mir eigentlich immer unheimlichen Konstruktion der Babyschlinge an meinem Hals hingst, dass Dich nichts beunruhigen und zum Schreien bringen würde. Der Stolz, mehr: die Andacht, die ich damals über die neue Verantwortung, mehr: über das Nicht-mehr-allein-Sein in Stunden, in denen ich früher allein gewesen war, empfand, vergolden mir in der Rückschau die Woche in Klaipėda, Gold, in das sich das Funkeln der Bernsteinstückchen in der Sonne am Strand mischt und Dein Lächeln, das Du mir schenktest, wenn Du aufwachtest, oder wenn wir unser tiefes Einander-in-die-Augen-Schauen Deiner Geburtsstunde, das lange unser wesentlichster Kontakt war, wiederaufnahmen. Klaipėda ist Gold, Sonne, Meer, Dein Anfang. Und die ersten Auftritte einer wunderschönen jungen Flötistin, seit sie Mutter geworden war.

      Ich könnte mir vorstellen, dass Deine stärksten Eindrücke dieser Zeit die akustischen waren. Was sahst Du, aus der Mulde Deiner Trageschlinge, aus der Tiefe Deiner Babyschale? Auch wenn Du mit einem Monat schon selbständig den Kopf heben konntest. Aber was hörtest Du: wie viele Stimmen von Möwen und Menschen, Töne von wie vielen Instrumenten, das Rauschen des Winds und das Fallen des Regens bei Nacht, und die gedämpften Gespräche Deiner Eltern bei Kerzenlicht, gedämpft wie Du sie vielleicht gewohnt warst von den Monaten, in denen sie von außen zu Dir gedrungen waren.

      Als Wesen von sieben Wochen warst Du in der privilegierten Lage, die man später im Leben vergeblich wieder herbeisehnt: ganz seinen Trieben und Instinkten zu leben, keine Rücksichten zu nehmen und keine Befehle ausführen zu müssen. Wenn Du hungrig warst, schriest Du, wenn Du satt warst, schliefst Du ein, und wenn Du nicht schlafen wolltest, ließest Du Dir das auch nicht einreden. In diesem Punkt warst Du immer schon sehr charakterstark. Und bist es bis heute.

      Einen Beweis der guten Kraft Deines Charakters gabst Du während eines Konzerts in Klaipėda. Ich stand mit Dir auf der Galerie des Theaters. Mama spielte gerade ein diffiziles Stück eines zeitgenössischen litauischen Komponisten, Du lagst in der Babyschlinge mit dem Gesicht zu mir, die Hälfte des Mozart hattest Du friedlich verschlafen, jetzt warst Du wach und schautest mir beim Zuhören zu. Je länger das ausdrucksstarke, wiewohl nicht sehr melodische Solostück dauerte, desto unruhiger wurdest Du – und machtest erste Ansätze, dieser Unruhe in kleinen gemurrten Stimmübungen Ausdruck zu geben, Andeutungen, Anläufen zu Schreien, die sich, wir wussten es beide von früheren Anlässen, zu einem solchen Inferno auswachsen konnten, dass keine Flöte der Welt dagegen hätte bestehen können.

      Ich wusste auch, dass es für ein Hinausgehen zu spät war. Wenn Du schreien wolltest, würdest Du nicht taktvoll warten, bis die Saaltüre hinter uns geschlossen wäre. Noch Dein Abgang hätte die gespannte Stille, die in Respekt vor der Flötistin und dem anwesenden Komponisten herrschte, zerrissen wie einen Kaiserschmarren, und ich wäre schuld gewesen, warum war ich auch so lange stehengeblieben. Weil ich zuhören wollte. Ich hatte meine selbstverständliche Pflicht, ganz auf Deine Bedürfnisse einzugehen, verletzt und Deinem babyhaften Vorrecht auf Egoismus meinen eigenen entgegengestellt. Und da stand ich nun und sah, wie sich Dein Mund zu weiteren, unerhörteren Lauten öffnen wollte, »Pst!« sagte ich leise und schaute Dir lächelnd und nicht zu fest in die Augen, weil klar war, dass mit Strenge gar nichts zu erreichen wäre, ich lächelte ganz gegen die Not der Situation und beobachtete Deinen Kampf, Dein Schreien und Weinen zurückzuhalten, fast schien es, es ginge nicht mehr, der Drang wäre stärker als Du, stärker als ich, und als das Flötenspiel auch noch durch kurze, heftige Schreie der Flötistin, die mitkomponierter Teil des Stücks waren, unterbrochen wurde, entfuhr Dir ein entschieden lauter Ton, über den wir aber beide sehr erschraken, »Pst«, sagte ich noch einmal leiser, aber eindringlicher, und Du verharrtest, Du hattest ja schon verstanden, es war verboten, aber wie konnte man das von Dir verlangen, Mama darf schreien und ich nicht?, stand in Deinen Augen, die sich fest in meine bohrten. Dein Gesicht verzog sich, Deine Lippen zitterten wie kurz vor dem Ausbrechen der großen Flut, Tränen liefen Dir aus den Augen, die sich an meinen festhielten und in ihnen die unausgesprochene Beschwörung lasen: Mama soll, das Konzert soll nicht gestört werden. Mit angehaltenem Atem und ich weiß nicht welcher Technik, die Du in einem Handbuch oder einem Podcast Millionen ungehemmt schreienden Babys dieser Welt weitergeben könntest, hieltest Du durch. Bis zum Ende des Stücks.

      Die Flötistin wurde gefeiert, der Komponist wurde gefeiert, es gab Blumen und Bravos für die Musiker und den Maestro – die am meisten gefeiert gehört hätte, warst Du, Du hattest Dein Weinen bemeistert, und zwar bis ich Dich im Künstlerzimmer Deiner Mutter in die Arme legte und auch dann noch eine Minute, bis die Schleusentore dem Druck des Aufgestauten endlich nachgaben. Eine Maß frischgesaugter Muttermilch beruhigte sogar das recht schnell,