das merkt man im Auto oder in der Straßenbahn gar nicht. Das ist wie auf den leichten Steigungen südlich von Paris, die die Tour-de-France-Fahrer laut Handke »falsche Ebenen« nennen. Sie sehen flach aus, aber gehen in die Beine. Ob es den Radweg schon gegeben hat, weiß ich nicht, weil ich mit dem Radfahren in Wien erst in späterer Zeit angefangen habe.
Außerhalb vom »Gürtel« ist die Stadt hier weiterhin eintönig. Heute, an diesem Sonntag mit Kontaktverbot, außerdem fast leer. Als ich nach Wien gezogen bin, vor dreiundzwanzig Jahren, war sie noch an jedem Sonntag so, im Grunde – Vergleichbares habe ich schon in meiner Kindheit in Salzburg als furchtbar deprimierend empfunden – schon ab Samstagmittag, wenn um zwölf alle Geschäfte zusperrten.
Kaum Autos, kaum Menschen. Leere Straßen. Ein kalter Wind und bedrohlich schwarze Wolken. Als ich klein war, Du weißt es, hatten wir zu Hause das »Grünchen«, ein grünes Stofftuch, das der um den Hals zu tragen hatte, der krank war. Ein einfacher Schnupfen reichte nicht. Das »Grünchen« musste man sich verdienen! Erst wenn Fieber und starke Halsschmerzen dazukamen, wenn es eine Angina oder Grippe war, hieß es: »Nimm das Grünchen.« Dann war man als krank gekennzeichnet, durfte im Bett bleiben und keinesfalls ausgehen. Heute, scheint es, trägt ganz Österreich ein »Grünchen«. Vor dem Mund. Und sitzt oder liegt zu Hause.
Nicht Dein Papa. Der kämpft sich gut eingepackt gegen den Wind die falsche Ebene hinauf und sieht, dass sich nichts verändert hat. Dieselben Geschäftsschilder, derselbe Staub, der auf allem zu liegen scheint, dieselbe Ungastlichkeit. Hier oben, in der Vorstadt, die schon eine Vorstufe, ein Vorplateau zum Wienerwald darstellt, ist es, als würde man aus Wien hinausgeweht, hinausgekehrt, nichts umschmeichelt dich wie in der Innenstadt, nichts lädt ein, nichts gibt dir das Gefühl, auch nur irgendwie willkommen zu sein. Du magst hier wohnen, arbeiten, gut, aber mehr nicht. Kein Spaß, kein Vergnügen, das Leben ist ein langer ernster Sonntag mit rundweg verschlossenen Türen, und gleich hinter dem letzten Biergarten wartet der Friedhof.
Auf dem Radweg in Höhe der Brauerei und nahe dem asiatischen Lokal, in dem sich keiner an mich erinnern würde, lag ein ausgepackter, vollkommen heiler Lutscher in Form eines rötlichen Herzens. Ich wäre fast darübergefahren. So, dachte ich, gehen wir oft mit dem um, was uns geschenkt ist. Ich habe dann ein paar Photos gemacht und Mama geschickt, Plätze, an die sie sich erinnert.
Das Autohaus, in dem wir ihren blauen Fiat (»Blauchen«) gekauft haben und dessen Besitzer immer »sehr lieb« gesagt hat. Auch auf Sätze wie »Ich habe mir Ihr Angebot angesehen«, hat er geantwortet: »Sehr lieb.« Rief man ihn am falschen Tag an, kam nur ein »Bimmibummlmd!« (Bin im Burgenland.) – »Ich rufe Sie am Montag wieder an?« – »Sehr lieb.«
Das Lokal mit dem kleinen Garten, wo wir oft Pizza gegessen oder geholt haben und dessen italienischer Name Mama so gefiel, weil er auch der einer russischen Comicserie ist und so wie ein Gruß aus ihrer Kindheit war: »Cipollino« – das »Zwiebelchen«.
Und natürlich unsere ehemalige Wohnstraße, dieser lange schmuck- und auch völlig geschäftelose Asphaltstreifen zwischen Betonhäusern, in deren gedachter Verlängerung man, ein bisschen wie zum Hohn, den viel prominenteren Kahlenberg mit seiner weißen Kirche strahlen sieht.
Im Kongreßpark, wohin Dich auch Oma und Opa so oft geschoben haben, blüht alles, wie damals. Ich habe mich auf eine der Bänke gesetzt, nur diesmal ohne Kinderwagen. Leichte, vereinzelte Schneeflocken trieben durch die Luft, wie vor zehn Jahren Gräser- und Weidepollen umhergeflogen waren. Vor zehn Jahren, im Mai. Und an das alles, dachte ich, an diese ganze Gegend, an diesen Lebens-Raum Deines ersten halben Jahres auf Erden sollst Du Dich nicht erinnern können? Das glaube ich nicht. Etwas in Dir hat alles aufgenommen, die Gerüche und Farben des Frühlings, die türkische Musik, die sonntags aus manchen Häusern dringt, wenn man an ihren verschlossenen oder halboffenen Fenstern vorbeigeht, das resolute Singen einer Amsel im Gebüsch, das auszudrücken meint: Es war doch schon Frühling, und wenn es auch jetzt wieder kalt geworden ist, ich bin da und singe. Wenn Du irgendwo auf der Welt einen Vogel singen hörst, singt auch dieser Vogel in Dir, den Du mit geschlossenen Augen in Deinen Kinderwagen hinein gehört hast. Wenn Du im Jusupowskij- Garten einen Magnolienbaum blühen siehst, siehst Du auch den Magnolienbaum im Kongreßpark blühen, zu dem Du, vom Bellen eines Hundes geweckt, die Augen aufgeschlagen hast durch Deinen Kinderwagensichtausschnitt, bevor das Gesicht von Papa sich zwischen Dich und den Baum geschoben hat, neugierig hineinschauend, und Du ihm Dein Lächeln schenktest und damit etwas, von dem er bis dahin nicht gewusst hatte, dass es auf der Welt existiert. Ein solches Glück, nämlich. Platon hätte das Deine »Idee eines Baumes« genannt, Deinen »Ur-Baum«. Oder Deinen »Ur-Vogel«.
Geschlossene Spielplätze sind ein trauriger Anblick. Und die Bäume blühten an diesem ausgangsbeschränkten klammen Sonntag wie im menschen- und vor allem kinderlosen Garten des selbstsüchtigen Riesen. Außerdem war es kalt am Popo auf der Bank und ich bin wieder aufs Fahrrad, raus aus dem Park, unter der S-Bahn durch, an einem abgerissenen Stall vorbei, in den noch vor zehn Jahren abends müde Fiakerpferde klappernd zur Ruhe gingen und der ein von mir oft besuchtes Gasthaus betrieben hatte, ein großes Stück Luft nun zwischen Häusern, ein rechteckiges Stück Luft mit Holzbretterresten auf dem Boden, vorbei am Bosnischen Grillhaus, das uns sonntags gerne mit Fleisch versorgte, ein letztes (letztes?) Mal durch die Wurlitzergasse zum sogenannten Familienplatz, wo Mama und ich auf unseren nächtlichen Spaziergängen (die mir neu waren und die ich später als so typisch petersburgisch kennenlernen sollte) mitgebrachten Wein getrunken hatten und wo die sogenannte Familienkirche heute überraschenderweise offenstand.
Es war, sah ich beim Eintreten, nur der hintere Teil geöffnet, ein Mann saß (betend?) auf einer Bank und schaute durch die Vergitterung in den leeren verschlossenen Kirchenraum. Durch das Gitter zündete ich eine Kerze an. Die Kirche wand sich wie eine Bündelung exponentieller Kurven streng nach oben und war so dunkel, dass man den Altar nur ahnen konnte. Man starrte in eine große Grotte, eine kalte, finstere Grotte ohne Tröstung und Freundlichkeit. Ich war und bin sehr froh, dass Du mit der Wärme und Geborgenheit der orthodoxen Gotteshäuser aufwächst. Und mir, ach, mir erweckt selbst das Uneinladende einer solchen unheimlichen gotischen Gruft zärtliche Erinnerungen an die Barockkirchen meiner Kindheit, in die wir zu Ostern und Schulschluss gingen und in denen ich immer so herzlich viel gelacht habe. Wir waren so gut aufgelegt, weil die Messe die Schule abschloss und mehr oder weniger lange Ferien vor uns lagen, und weil draußen Frühling oder Sommer war, und wir fanden alles zum Lachen, besonders, weil es eigentlich verboten war. Auch gestern musste ich lächeln, obwohl ich alleine stand in der Familienkirche und meine Familie zerstreut ist in ihren Salz- und Petersburgen und die Zugbrücken hochgezogen sind und die Quarantäneflagge weht und keiner mir sagen kann, wann ich wieder einreiten darf und Ihr herausströmen auf die Blumenwiesen, weil der Coronadrache erschlagen im Graben liegt.
Ich verließ Ottakring, in dem ich dreizehn Jahre gelebt hatte, die zugige Anhöhe, die ich erst jetzt richtig als solche verstand, weil ich das Fahrrad die meiste Zeit bis zum heutigen Zuhause einfach rollen lassen konnte. Ich verstand aber auch, dass bei allem, was mir zu diesem vergangenen Lebensschauplatz Unfreundliches eingefallen war, in meinem Gefühl für ihn die Zärtlichkeit überwiegt.
Wenn ich mich an Deinen ersten Frühling, Anfisa, erinnere, wird mir klar, dass wir Dir von Anfang an eine große Rastlosigkeit mitgegeben haben. Abgesehen von den Reisen, waren wir auch in Wien immer in Bewegung. Wir schauten uns viele Wohnungen an, die zum Verkauf standen. Einmal auch einen Kindergarten. Den wir nicht kaufen wollten, aber den uns meine Kollegin für Dich zum Besuch empfohlen hatte. So schön seine Lage auch war, befremdeten uns zwei Dinge: Die Ernährung war vegetarisch – und es gab keine Bücher. Der Hort setzte auf »eigene Kreativität« und Fleischlosigkeit. Wir reservierten halbherzig einen Platz für Dich auf Jahre voraus und zogen betroppezt ab.
Erfolgreicher war der Besuch des Babyschwimmens in Döbling. Mama stand, Dich haltend, im Bikini mit anderen Müttern und Babys im hüfthohen Wasser, eine Schwimmtante oder -therapeutin oder wie man das nennt, nahm Dich und tauchte Dich unter und drehte Dich unter Wasser im Kreis herum. Ich stand am Beckenrand und das Herz stand mir still, war aber bald getröstet, weil Du nicht schriest oder weintest, Du lachtest zwar auch nicht vor Vergnügen, warst eher ernst und registriertest irgendwie sachlich, dass es also diese Bewegungsart auf Erden auch gab, und zogst wohl heimlich in Betracht, dass sie