er zu den Volksgenossen gesprochen. Sie könnten beruhigt in Aachen bleiben, hatte er versichert, an der Maas werde eine neue Front aufgebaut, es bestünde überhaupt kein Anlass zur Besorgnis. Inzwischen aber hatten bei Rötgen amerikanische Panzerspähwagen schon bis an den Westwall vorgefühlt – und von einer Stunde zur anderen war der Evakuierungsbefehl für die Aachener gekommen. Und dazu andauernd diese Flieger!
»Na, denn prost«, murmelte Wenzel, als er die paar Schritte vom Pkw zum Omnibus zurücklegte.
»Wie steht’s?«, fragte er seinen Stellvertreter, Scharführer Glebsch.
»Mies. Haben Sie Verpflegung auftreiben können, Oberscharführer?«
»Für die?« Wenzel wies mit dem Kinn auf den Autobus. »Nee. Geht alles drunter und drüber. Kein Mensch weiß, wer trinkt und wer zahlt. Wir sollten schanzen.«
»Schanzen?«
Wenzel nickte.
»Mit diesen Halbleichen?«
»Halbleichen oder nicht …«
»Zwei sind wieder gestorben. Seit drei Tagen haben die Leute nichts zu fressen bekommen … Und dieser verfluchte Gestank!«
»Schnauze!«, herrschte Wenzel den anderen an. »Wenn es heißt, es wird geschanzt, dann wird geschanzt. Und wegen des Gestanks – du brauchst ja nicht rein! Los, wir fahren ab. Es sind doch bloß fünf Minuten.«
Im Autobus für 30 Fahrgäste waren über 50 Menschen zusammengepfercht worden. Man hätte noch mehr Häftlinge hineingestopft, aber dann hätte der altersschwache Motor es nicht mehr geschafft. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt worden, vor den Brettern hatte man Eisengitter angebracht. Von den 52 Menschen im Autobus waren über die Hälfte Frauen. Das heißt, jetzt waren es noch fünfzig Häftlinge. Die zwei, die während Wenzels Abwesenheit gestorben waren, hatte man bereits verscharrt.
50 Männer und Frauen, von 18 bis 65 Jahren, die während der dreitägigen Fahrt nicht ein einziges Mal aus dem Wagen gekommen waren. Fünfzig hungernde, weinende, unter Atemnot leidende, mit Fäusten gegen die Bretter polternde, resignierende, vor sich hinstarrende, im Unrat liegende, langsam dahinsterbende Menschen – und ein sechs Monate altes Kind.
In der ersten Abenddämmerung blieb der Autobus vor dem Dorf stehen, wo geschanzt werden sollte. Als Scharführer Glebsch die Tür aufschloss, öffnete und vor dem Gestank zurückprallend hineinschrie, alle sollten aussteigen, antwortete ihm tiefes Schweigen.
Und dann brach es aus: Das Geheul. Ein schluchzendes Atemholen zuerst, ein ungläubiges Wispern, als Bestätigung des nicht Fassbaren suchendes Gemurmel, eine laut fragende, schrille Stimme, zwei Stimmen, zehn und 50 Stimmen, schnell anschwellend. Schreie nach Platz, Luft, Nahrung, nach dem freien Himmel, Stimmen, die zu einem Geheul wurden, als die Menschen begannen, sich ins Freie zu kämpfen.
Die dunkle Öffnung der Tür spie sie aus. Die vier Leute des Oberscharführers Wenzel, die den Wagen mit schussbereiten Maschinenpistolen im Halbkreis umstellt hatten, wichen erschrocken zurück. Menschen fielen aus der Tür, immer neue, 50 Menschen – nein, 49.
»Ruhe!«, schrie Wenzel mit überschnappender Stimme. »Ruhe! Da soll doch … Ruhe! Ruhe!«
Aber sie kümmerten sich nicht um ihn. Er riss die Pistole aus der Tasche und schoss wütend in die Luft, einmal, zweimal, dreimal, aber auch darum kümmerten sie sich nicht. Luft!«
Irgendwann waren sie draußen. Und dann kam die Mutter. Sehr blass, mit großen, dunkelbrennenden Augen und halb geöffneten, blutleeren Lippen, durch die sie gierig die frische Luft einsog, stand sie oben an der Tür und sah hinab. Das Kind, ein formloses Bündel Windeln, hielt sie an sich gepresst, und einen Augenblick schien es, als bräche sie zusammen. Sie schloss die Augen, wankte ein wenig, ihre freie Hand suchte nach Halt, doch dann presste sie das Kind an sich, als könnte sie allein dort Halt finden. Dann machte sie die Augen auf und ging vorsichtig hinunter, Schritt für Schritt, bis sie auf der Erde stand.
Niemand außer Wenzel hatte diese Szene beobachtet. Er starrte die junge Frau mit dem Kind an. Donnerwetter, dachte er, du lieber Himmel, wo kommt die bloß her? Doch dann sah er, dass ihre Kleider schmutzig waren, ihr Haar glanzlos und ihre Wangen eingefallen.
Er drehte sich rasch zu Glebsch um und schnarrte: »Eine gottverdammte Schweinerei! Die Leute sollen sich sauber machen und den Wagen ausmisten. In zwei Stunden mache ich einen Appell, der sich gewaschen hat. Ich will diese Schweinerei nicht mehr sehen, verstanden?«
»Jawohl, Oberscharführer«, sagte Glebsch verwundert, der diesen schneidenden Ton von Wenzel nicht gewohnt war. Schließlich arbeiteten sie ja schon gute zwei Jahre zusammen.
»Und dann muss man sehen, dass man Verpflegung auftreibt«, sagte Wenzel. Mit einer hungrigen Frau war nichts anzufangen. »Nein – das mache ich lieber selbst. Überwachen Sie das Reinemachen. Morgen früh fangen wir mit Schanzen an.«
»Jawohl«, sagte Glebsch.
Beim Herausstürzen aus dem Wagen waren weitere drei Häftlinge zu Tode gekommen. Andere verloren das Bewusstsein, als sie von der frischen Luft wie von einem Keulenschlag getroffen wurden. Viele blieben kraftlos auf der Erde liegen, von ihrer Schwäche übermannt, unfähig, sich zu rühren. Und alle, die sprechen oder flüstern konnten, baten um Wasser.
Das war zu der gleichen Zeit geschehen, als Feldwebel Klingler den amerikanischen Posten niederschlug und um sein Leben zu laufen begann.
Ein großer, unförmiger Schatten stand auf der leicht abschüssigen Landstraße. Durch die Nacht dröhnten im Westen starke Motoren: Panzer. Und oben unter den Sternen, unsichtbar und hoch, tönte das dunkel vibrierende, singende Gedröhn der Flugzeugmotoren von überallher aus dem schwarzen Himmel.
Sie fliegen wieder, jede Nacht. Immer wenn es ihnen gerade passt, dachte Feldwebel Klingler, während er regungslos am Waldrand stand und, an den dicken Stamm einer Fichte gelehnt, horchte. Eine Nacht voller Geräusche, Stimmen, Wispern, Gefahr.
Wo waren die anderen geblieben? Hatten die Partisanen sie erwischt?
Was war wohl dieses Ding vor ihm auf der Straße? Ein abgeschossener Panzer? Oder vielleicht … er wollte es sehen. Vielleicht fand er etwas Brauchbares.
Vorsichtig glitt sein Schatten über den schmalen Wiesenstreifen, der den Wald von der Landstraße trennte. Die Handfläche, mit der er den Revolverkolben umklammert hielt, war feucht.
Und dann erkannte er, was da vor ihm stand: ein deutscher Lastwagen mit geschlossener Plane, mit Tarnzweigen bedeckt. Eine irre Hoffnung raubte ihm schier den Atem. Aber dann sagte er sich, dass es kindisch war zu glauben, der Wagen sei fahrbereit. Warum hätten sie ihn dann stehengelassen? Jabos? Panik? Wahrscheinlich hatte die Kiste nicht mehr gewollt.
Neben dem Fahrerhaus blieb er einige Augenblicke stehen. Das mahlende Geräusch der Panzermotoren näherte sich. Die Tür stand weit offen. Er stieg ein. Die Scheiben waren zersplittert, die Windschutzscheibe war von winzigen Rissen geädert. Genau vor seinem Gesicht befand sich ein kopfgroßes, rundes Loch. Aber im Führerhaus lag kein Toter.
Es war ein Dreitonner Opel. Der Zündschlüssel steckte. Natürlich, dachte Klingler, man lässt ihn immer stecken, wenn man plötzlich abhauen muss, wer kümmert sich um so eine Kiste, die einem nicht gehört? Und mehr, um seine Überzeugung bestätigt zu sehen, dass der Wagen unbrauchbar sei, als auf Erfolg hoffend, trat er auf den Anlasser und drehte den Zündschlüssel.
Rrrrr – rrrr. Das hässliche Geräusch musste kilometerweit zu hören sein.
Klingler probierte es noch einmal. Nichts.
Lauschend beugte er sich durch den leeren Fensterrahmen. Die Panzer waren nicht mehr weit. Wenn sie ihn hier erwischten … wenn ihn die Amerikaner überhaupt erwischten … Noch hatte er ein wenig Zeit.
Sprit?
Der Benzinanzeiger schlug aus, als er den Schlüssel nochmals drehte. Viel war es nicht mehr, vielleicht 15 oder 20 Liter. Himmel, wie weit konnte er damit kommen?
Der Gedanke, dass es vielleicht doch klappen könnte,