immerhin genug … wenn er den Wagen nur in Bewegung bringen könnte! Verzweifelt schob er, dass er glaubte, seine Muskeln müssten zerreißen.
Wenn jetzt nur die anderen da wären! Würde er jemals erfahren, was aus ihnen geworden war?
Lange rührte der Wagen sich nicht. Drei Tonnen, dachte er, drei Tonnen, wie soll ich Idiot allein drei Tonnen anschieben?
Er lief um den Wagen und glättete mit der Handfläche fieberhaft die rauhe Oberfläche der Straße. Lag’s an diesem Stein? Er schob ihn weg, lief wieder vor, stemmte sich mit aller Kraft gegen den Kotflügel.
Der Wagen begann zu rollen. Es ging immer schneller. Klingler sprang auf, packte das Lenkrad, trat die Kupplung, zweiter Gang, noch war der Wagen nicht schnell genug, er wartete – jetzt!
Langsam ließ er die Kupplung nach. Der Lastwagen ruckte, wurde langsam – da die erste Zündung … noch eine … und auf einmal war der Motor da. Klingler gab mehr Gas. Dritter Gang.
Was er vorhatte, war – mit Vernunft betrachtet – heller Wahnsinn, und er sagte sich dies auch. Aber was blieb ihm anderes übrig? In diesem dichtbesiedelten Land hatte er zu Fuß keine Chance, die eigenen Linien zu erreichen. Mit dem Wagen konnte er vielleicht durchbrechen.
Vielleicht? Nein, es war unmöglich. Aber er hatte einen Amerikaner erschlagen, der sein Soldbuch in der Tasche hatte. Er musste einfach nach Osten, zurück zu den eigenen Leuten. Hinter jeder Straßenbiegung, hinter jedem Waldstück, in jedem Dorf konnten amerikanische Posten stehen. Durchbrach er die erste Kette, wurde die zweite alarmiert und – aus. Oder Panzer konnten die Straße blockieren. Und doch musste er es einfach wagen.
Über das Lenkrad gebeugt, durch das Loch in der Scheibe starrend, durch das der Fahrtwind pfiff, fuhr er dem grauen Band der Landstraße nach, das durch die Dunkelheit zu dem Wetterleuchten der Front führte, den langsam aufsteigenden Leuchtkugeln und dem heftigen Rumoren des Artilleriefeuers entgegen.
Die Häftlinge schanzten in der Gegend östlich Verviers, eine waldreiche Gegend, die Nordausläufer des Hohen Venn. Pioniere hatten das Schanzzeug geliefert. Schützenlöcher und Deckungsgräben sollten ausgehoben werden. Für die Nachtruppen, wie das Militär die Verbände von der Nachhut nannte.
Die Maaslinie war trotz der Versicherung des Reichsführers SS Heinrich Himmler geplatzt wie eine Seifenblase. Die Amerikaner hatten Lüttich genommen, vielleicht auch schon Verviers. Die Front war recht nahegerückt, wie gelegentliches, deutlich hörbares MG-Geschnarr oder Artilleriefeuer verrieten.
Oberscharführer Wenzel beaufsichtigte die Arbeiten, hörte das Scharren der Spaten und das Klirren der Pickel. In der Morgendämmerung hatte er Verstärkung bekommen: etwa 100 Ostarbeiter, die aus dem belgischen Kohlenpott hierhergetrieben wurden, angeführt von einigen ratlosen Männern der Organisation Todt. Ein Oberleutnant des Heeres hatte die Gruppe aufgegriffen, hierher verwiesen und unter Wenzels Kommando gestellt: Schanzen.
Wenzel war mit dieser Entwicklung nicht einverstanden. Er war für Ordnung. Hier aber ging alles drunter und drüber. Nun, es würde nicht ewig dauern. In Aachen hatte er alles getan, was möglich war, um so schnell wie möglich neue Befehle zu bekommen. Immerhin hatte das Ganze wenigstens etwas Gutes mit sich gebracht: Der Oberleutnant vom Stab hatte für Verpflegung gesorgt.
»Diese ausgehungerten Vogelscheuchen können ja nicht mal den Spaten heben, wie sollen sie dann schanzen?«, hatte er gesagt.
Jetzt streifte Wenzel durch die Gruppe der Arbeitenden und wusste doch, dass dieses »Beaufsichtigen« nur ein Vorwand war. Er suchte die junge Belgierin mit dem Kind.
Zuerst fand er das Kind. In jetzt halbwegs saubere Windeln gewickelt lag es im Gras, einen Regenmantel untergeschoben. Als Wenzel sich vorbeugte, um einen Blick auf das Gesichtchen zu werfen, schüttelte er überrascht den Kopf. Er hatte etwas Ähnliches erwartet wie im Warschauer Ghetto, wo er einmal auf einer Instruktionsreise gewesen war: einen kleinen, hautüberzogenen Totenkopf mit tiefliegenden Augen, den Tod auf die Stirn geschrieben. Aber dieses Kind hier sah gar nicht übel aus, es schlief, die halbgeschlossenen Fäuste neben dem kleinen Gesicht.
»Monsieur?«
Wenzel fuhr herum. Die Mutter – Jacqueline Doignon, 24 Jahre alt, wie Wenzel noch in der Nacht in ihren Papieren festgestellt hatte – stand hinter ihm und sah ihn an. Sie war kaum wiederzuerkennen. Schlank, zierlich, kastanienbraunes Haar, große, fragende und erschrockene Augen, die das tiefe Grau eines wolkenverhangenen Himmels hatten. Ihr Rock und der Pullover waren, man sah es, gewaschen, ihre Füße steckten in derben Schuhen. Langsam, ohne den Blick von Wenzels Gesicht zu lösen, ging sie um ihn herum und kniete neben dem Kind nieder.
»Monsieur?«, fragte sie wieder, und Wenzel entgegnete beruhigend: »Na, na, ich tu’ ihm schon nichts. Oder ist’s ein Mädchen?«
»Ein Junge«, antwortete die Frau.
»Wie alt?« Wenzel wusste es, er hatte es in den Papieren gelesen. Und er schalt sich selbst einen Narren, weil er verlegen war, weil er nicht wusste, was er sagen sollte, und weil er nicht imstande war, die unsichtbare Mauer der Unnahbarkeit und der Angst zu durchbrechen, die diese Frau umgab, .
»Sechs Monate«, antwortete die Frau.
»Hat es was zu essen bekommen?«
»Oui.«
»Was?«
»Oh – wie wir alle.« Sie sprach überraschend gut deutsch, wenn auch mit einem rollend-weichen französischen Akzent.
»Aber so’n Baby braucht doch Milch, oder?«
Sie nickte, und er wartete, dass sie ihn jetzt, da er ihr das Wort in den Mund gelegt hatte, um Milch für das Kind bitten würde – und er ärgerte sich, dass sie es nicht tat. Zugleich und ungewollt stieg seine Achtung vor ihr. Abrupt drehte er sich um, ging ein paar Schritte weiter, zögerte und sagte wie beiläufig über die Schulter:
»Kommen Sie nachher zu meinem Wagen. Ich gebe Ihnen Milch, Büchsenmilch. Kann sie der Kleine auch trinken?«
Sie nickte. Und als er weiterging, hörte er hinter sich ihr leises, überraschtes und dankbares: »Merci, Monsieur.«
Etwas später holte sich Jacqueline Doignon eine Dose Milch für ihr Kind. Als sie auf dem Rückweg war, übersprangen zwei amerikanische Jagdbomber den bewaldeten Höhenrücken im Südwesten und griffen die Baustelle an. Die Arbeitenden warfen die Schanzgeräte von sich und pressten sich auf die Erde. Jacqueline begann zu laufen. Die Milchdose hielt sie umklammert, als müsste sie sie mit dem eigenen Leib schützen, lief, sprang über die seichten Gräben, lief, stolperte, fiel hin, stand auf, lief. Sie war die Einzige, die sich nicht hingeworfen hatte, das Gesicht und die Hände nicht in die Erde wühlte, um Rettung betend und voller Todesangst das Ende erwartend.
Der erste Jagdbomber warf seine Bomben. Dann der zweite. Jacqueline kümmerte sich nicht um das heulende Rauschen. Sie lief zu ihrem Kind, tauchte ein in den dichten Staubvorhang, den die Bomben emporgewirbelt hatten, und wusste nicht um ihr eigenes Schluchzen, um ihre Tränen, und sie hörte sich selbst rufen: »Ich komme, mon petit, ich komme – gleich!«
Doch dann drehten die Flugzeuge ab und verschwanden hinter dem Höhenrücken. Die Menschen hoben die Köpfe und sahen ihnen ungläubig nach: Es war wie ein Wunder. Sie lebten noch.
Als Jacqueline sich halb ohnmächtig, mit wild schlagendem Herzen neben ihr Kind warf und mit zitternden Fingern über das kleine Gesichtchen strich, betete sie, dass ihm nichts geschehen sein möge. Das Kind schlief, als wäre nichts geschehen.
In der Scheune war es kalt und zugig. Durch die dünnen Bretterwände drang das Poltern des Artilleriefeuers – und war nicht das MG-Geknatter merklich näher gekommen?
»Sie sind bald hier«, sagte Marie Duhamel. »Hörst du, Jacqueline?«
»Ja«, sagte Jacqueline. »Morgen … vielleicht übermorgen.«
»Aber wenn sie kommen, sind wir nicht mehr hier«, sagte eine bittere, heisere Männerstimme aus der tiefen Dunkelheit. Jacqueline kannte sie. Es war Alfred Bonvier, der alte Mann mit den langen