Franz Taut

Standgericht


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hat’s gut«, sagte Bonviers Stimme. »Er weiß nichts. Er weiß nicht mal … ah – diese Verbrecher!«

      »Hör endlich auf!«, sagte eine tiefe Männerstimme – war’s nicht Pelegrin? –, aber Bonvier sprach unbeirrbar, in sich und seine Qual und seine Hoffnungslosigkeit versunken, weiter: »Wie können diese Verbrecher fast die ganze Welt … wenn ich’s nur überleben würde!«

      »Was dann?«, fragte die tiefe Stimme.

      »Das fragst du noch?«

      »Nicht alle sind schlecht«, warf Marie ein.

      »Nein, nicht alle sind schlecht.« Jacqueline drückte das kleine, warme, ruhig atmende Bündel an sich. Aber sie dachte dabei nicht an Wenzel und an die Milch, die er ihr für den Kleinen gegeben hatte. Vor ihren Augen erschien das Bild einer sonnenbeschienenen Straße, eine lange Kolonne, sie selbst mitten drin, Durst, Hunger, schmerzende Arme und Füße, tanzende, flimmernde, bunte Kreise und Punkte, die ihr die Schwäche vor die Augen zauberte, Rast am Straßenrand, schreiende SD-Posten, das Wimmern des Kindes, der Wunsch nach Ruhe, Tod … wann endlich wird dieses Kreuz von uns genommen? Und dann das Bild eines hageren, jungen Männergesichts, das sich über sie gebeugt und gefragt hatte: »Ist Ihnen schlecht? Haben Sie Hunger?«

      »Nein … das Kind«, hatte sie gesagt.

      »Himmel – das Kind! Wie kommen Sie hierher?«

      Erst jetzt hatte sie gesehen, dass dieses Gesicht einem deutschen Feldwebel gehörte. Dann war sein Gesicht plötzlich verschwunden gewesen. Ihr hatte es leid getan, es war ein hartes und doch wiederum gutes Gesicht gewesen, sie hatte sich noch verlassener gefühlt und zu weinen begonnen, aber plötzlich war der Feldwebel wieder da gewesen und hatte mit einer scheuen Geste einen prall gefüllten Brotbeutel auf ihre Knie gelegt und zu dem fluchenden Posten gesagt:

      »Wenn du ihr das wegnimmst, dann setzt’s was!« Und zu ihr: »Brot, ein paar Konserven. Milch. Für das Kind, ja?« Sie hatte keine Antwort geben können.

      »Wie heißt das Kind?«, hatte er gefragt.

      »Georges.«

      Und eine fremde Stimme hatte gesagt: »Komm jetzt, Klingler! Wir müssen weiter!«

      »Ja, ja.« Und dann: »Es tut mir leid …«

      Klingler hat er geheißen, Klingler, ein einfacher deutscher Name.

      »Nein, nicht alle sind schlecht!«, wiederholte Jacqueline leise.

      »Du denkst an diesen Feldwebel, was?« Bonviers Stimme klang böse. »Du solltest lieber an deinen Mann denken!«

      »Halt den Mund!«, zischte Marie. »Lass sie endlich in Frieden!«

      »Und Milch hat sie auch bekommen«, brummte Bonvier. »Haben wir Milch bekommen? Oh, es ist kalt, mein Gott, wie kalt es ist!«

      »Armer alter Mann«, murmelte Marie. Sie war die Frau eines Arztes und kümmerte sich um alle und besonders um Jacqueline und den Kleinen.

      Schritte kamen näher, dann ging die Tür auf, und die Stimme des Rottenführers Uscher rief in die Finsternis: »Doignon! Jacqueline Doignon!«

      Stille.

      »Verflucht … Jacqueline Doignon!«

      »Aha – schon wieder!«, sagte Bonvier.

      »Pass auf Georges auf, Marie!«

      Jacqueline küsste das kleine, warme Gesichtchen und legte den Kleinen in die suchenden ausgestreckten Arme der anderen. Dann stand sie auf und ging hinaus, hinter sich die verbissene, heisere Stimme Bonviers: »Natürlich … Hure! Milch …!«

      »Wie geht’s dem Kind?«, fragte Wenzel.

      »Merci, gut«, sagte Jacqueline. Ihr Gesicht schimmerte weiß in der tiefen Dämmerung.

      »Hat ihm die Milch geschmeckt?«

      Jacqueline nickte.

      »Hier hast du noch eine Dose.«

      Jacqueline rührte sich nicht.

      »Na, nimm schon!«, sagte Wenzel. »Zum Teufel, ich tu dir nichts!«

      »Was wollen Sie von mir?«, fragte Jacqueline.

      »Du kannst Stroh bekommen«, sagte Wenzel. »In der Scheune ist es sicher kalt – zu kalt für das Baby, oder?«

      »Was wollen Sie von mir?«

      Wenzel trat näher, beugte sich vor, und seine Stimme klang heiser: »Dumme Frage! Du kannst soviel Milch haben, wie du willst. Nicht nur Milch. Anderes … ich kann dir geben, was du brauchst, verstehst du? Verstehst du mich? Milch! Haferflocken! Zehn Dosen, zwanzig …« Er griff nach ihren Armen, näherte sein Gesicht dem ihren. »Du kannst haben, was du willst … alles … Komm!«

      Jacqueline wehrte sich verbissen, verzweifelt, sie begann zu schreien, aber er hielt ihr den Mund zu, sie bekam keine Luft mehr, verstummte, und dann hörte sie eine Stimme, die wie aus weiter Ferne rief: »Oberscharführer Wenzel! Oberscharführer Wenzel!«

      Wenzel ließ sie fluchend los. Sie sank zu Boden, lehnte sich an den Baumstamm neben Wenzels Wagen und hörte durch wie durch einen Nebel zwei leise Stimmen.

      »Ein Leutnant«, meldete Glebsch.

      »Was will er von mir?«, fragte Wenzel.

      »Wir müssen weg. Er will die Gräben besetzen. Die Amerikaner … Er hat’s eilig.«

      »Ja, ja, ich komm’ ja schon!«

      Jacqueline fühlte sich emporgerissen, und Wenzel sagte: »Geh jetzt! Wir sprechen uns noch. Hier hast du die Milch. Los, geh!«

      Kaum eine Stunde später fuhr der Autobus mit seiner zusammengepferchten Menschenfracht ratternd und schlingernd über die Feldwege auf den roten Widerschein am Himmel zu, hinter dem die deutsche Stadt Aachen lag.

      Die Kuppel des Befehlsbunkers, sorgsam bedeckt mit tarnenden Rasenstücken, erhob sich inmitten einer von hohen Fichten und immer noch sommergrünen Buchen umsäumten Lichtung. Auf der steil in die Tiefe führenden Bunkertreppe begegnete Feldwebel Klingler einem Melder.

      »Wo ist Hauptmann Geis?« Klingler bemühte sich mit Erfolg um einen gleichgültigen Ton.

      »Sie, Herr Feldwebel?« Der Melder vergaß, den Mund zuzumachen.

      »Wie du siehst!« Klingler hätte den anderen am liebsten umarmt.

      »Aber wie …?«

      »Später«, sagte Klingler. »Also, wo finde ich den Hauptmann?«

      »Ganz hinten – sechste Tür. Er schreibt wieder an seinem Tagebuch, aber von Ihnen lässt er sich bestimmt dabei stören!«

      Am Ende des Stollenganges klopfte Klingler an eine Tür aus Stahlblech.

      Eine bekannte Stimme rief: »Herein!«

      Klingler öffnete die Tür, trat über die Schwelle, grüßte und meldete: »Feldwebel Klingler aus amerikanischer Gefangenschaft zurück.«

      Und es passierte genauso, wie Klingler sich das ausgemalt hatte: Der Hauptmann fuhr überrascht zusammen, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn wieder, fuhr sich mit der Hand über die Wangen, als wollte er seine Überraschung und Freude verbergen, aber es gelang ihm nicht ganz, und er sagte: »Ach, du liebes bisschen! Klingler, Sie?«

      »Jawohl, Herr Hauptmann.«

      Hauptmann Geis kam langsam auf den Feldwebel zu und betrachtete ihn unverwandt, wie um sich zu vergewissern, dass er es auch wirklich war.

      Sie waren etwa gleich groß. Der Hauptmann war nur wenige Jahre älter als der Feldwebel. An der linken Wange hatte er eine Narbe, die sich rötete, wenn er zornig war – ein Streifschuss. Sein EK I, das er fast zur gleichen Zeit wie Klingler in Russland erhalten hatte, besaß Seltenheitswert: Ein Querschläger hatte das Hakenkreuz in der Mitte zum großen Teil weggeschliffen.

      »Mensch,