Franz Taut

Standgericht


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sich Klingler die ganze Zeit über, seit er im Niemandsland von einem deutschen motorisierten Spähtrupp angehalten worden war. Mehr Glück als Verstand! Auf seiner wilden Fahrt war er dreimal beschossen worden. Eine amerikanische MG-Garbe hatte die Vorderscheibe zertrümmert – und er hatte nicht mal einen Kratzer abbekommen. Der Wagen sah wie ein Sieb aus, aber der Motor war unbeschädigt geblieben. Seine Rechnung war aufgegangen.

      Die Amerikaner, so hatte er sich gesagt, waren viel zu schnell vorgestoßen, um alle Straßen kontrollieren zu können. Darin hatte seine Chance gelegen. Dass aber er, der auf gut Glück nach Osten gefahren war, ausgerechnet die unbewachten Straßen finden würde, das war eben jenes »Schwein« gewesen, das man zu jener Zeit zum Überleben brauchte.

      »Sie müssen mir mal die ganze Geschichte genau erzählen … Verflucht – schon wieder!« Das galt dem schrillen Läuten des Telefons. Der Hauptmann hob ab. »Geis. Ja? Haben Sie Verbindung? Nein? Gut. Ende.«

      Er legte auf und kurbelte ärgerlich ab.

      »Nichts klappt in diesem verdammten Westwall. Alles verrottet und vergammelt. Kann das Korps einfach nicht an die Strippe kriegen.«

      Jetzt war er wieder ganz dort, wo er vor Klinglers Ankunft gewesen war: bedrückt von Sorgen, müde, unausgeschlafen und bedrängt von Fragen, für die es keine Lösung gab.

      »Sind Sie sehr müde, Klingler?«

      »Nein, Herr Hauptmann.«

      Er braucht mich, dachte Klingler. So wie früher. Wie immer. Er war wieder zu Hause.

      »Gut, dass ich Sie wieder habe … Draußen in der Fichtenschonung stehen Meldekräder. Nehmen Sie eins und fahren Sie nach Würselen zum Stab des 81. Armeekorps. Vielleicht haben die auch schon Stellungswechsel gemacht. Melden Sie sich beim Ia. Ich brauche klare Befehle. Und …« Er sah Klingler an, und über sein narbiges Gesicht huschte ein Lächeln: »Sie müssen sich neu ausstaffieren lassen. Sturm hat alles auf Lager … Dann holen Sie sich den Marschbefehl. Ich gebe Ihnen auch eine Karte mit. Sie müssen durch Aachen fahren.«

      Durch die Waldstraße kam Klingler im flotten Tempo vorwärts. Dann aber begann die Quälerei. Der Wald blieb zurück und gab den Blick auf den Talkessel frei, in dem Aachen lag. Über der Stadt hingen schmutziggraue Schwaden aus Staub, Rauch, Brandqualm und Pulverdampf. Und über die Straße quälten sich Marschkolonnen, Flüchtlinge, schreiende und fluchende Offiziere, Unteroffiziere, Feldgendarmen, Flüchtlinge, Frauen, Kinder … Nahm denn dieses Durcheinander überhaupt kein Ende?

      Weit voraus flogen amerikanische Bomber vom Typ »Marauder« in Dreierketten an. Explodierende Flakgranaten betupften den Himmel mit Wattebäuschchen. Dann fielen, winzig klein und harmlos anzusehen, die Bomben.

      Eine Straßenkreuzung war hoffnungslos verstopft. Ein großer Autobus mit vernagelten und vergitterten Fenstern war, aus einem Feldweg kommend, mit den Hinterrädern in den Straßengraben gerutscht und kam nicht mehr frei. Klingler stieg ab und ging zu dem Knäuel von Fahrzeugen, um die laut streitende und gestikulierende Männer standen. Ein Oberscharführer des SD stritt aufgeregt mit einem Feldgendarmen.

      »Ist denn der Autobus beladen?«, fragte Klingler.

      »Mischen Sie sich nicht rein!«, fauchte ihn Oberscharführer Wenzel an.

      »Natürlich ist er das«, sagte der Feldgendarm. »Aber der Kerl will die Leute nicht aussteigen lassen. Und die Kiste schafft es nicht mehr.«

      »So seien Sie doch vernünftig … lassen Sie die Leute aussteigen«, versuchte Klingler zu vermitteln. »Was sind das überhaupt für Leute?«

      »Ich habe meine Befehle!«, schrie Wenzel.

      »Befehle oder nicht – Sie verstopfen die Straße!«, brüllte der Feldgendarm zurück, und Klingler sagte: »Reg dich ab! Machen wir die Kiste einfach auf!«

      »Bin ja neugierig, was da drin ist«, sagte ein Unteroffizier. Die Gruppe um Wenzel löste sich auf, alle gingen zum Autobus, und der Unteroffizier begann an der Klinke zu rütteln. Klingler stand daneben und plötzlich war es ihm, als höre er ein Geräusch, das nicht hierhergehörte, doch ja … es war ein alltägliches, immer wieder erlebtes, gefürchtetes, verhasstes, todbringendes Geräusch: Jabos flogen mit gedrosselten Motoren an!

      Er wusste es, bevor er sie sah. Und während er vom Autobus weglief, über den Straßengraben sprang und ins Feld lief, um möglichst weit von der Kreuzung zu sein, wenn sie ihre Bomben warfen und mit den Bordwaffen zu schießen begannen, schrie eine Stimme: »Volle Deckung! Jabos!«

      Klingler warf sich hin, und das leise Brummen der Motoren und das Rauschen des Windes um die Tragflächen der Flugzeuge wurde zu einem heulenden Gebrüll.

      Die Kreuzung war wie leergefegt. Aus dem Autobus aber kam jetzt das Geschrei vieler Menschenstimmen, und es war lauter als das Motorengeräusch der anfliegenden Flugzeuge.

      Klingler hörte es und presste sein Gesicht in die Erde … er wollte nichts mehr sehen.

      Dann fielen die Bomben. Klingler fühlte sich vom Luftdruck emporgehoben, dann presste es ihn gegen den Boden, Erdbrocken trommelten auf seinen Rücken, und in seinen Ohren begann es zu singen. Das war knapp!

      Er sah auf. Mitten auf der Kreuzung stand immer noch der Autobus, und aus seinem Innern drang das panische, angstvolle Geschrei menschlicher Stimmen. Einschüsse in den Seitenwänden und in den vergitterten und vernagelten Fenstern. Gleich mussten die Jabos zum zweiten Mal anfliegen. Der Autobus und die ineinander verkeilten Fahrzeuge standen schließlich wie auf einem Präsentierteller da für Bordwaffenbeschuss.

      Klinger drehte sich auf den Rücken. Der Himmel war leer. Waren die Jabos wirklich weg?

      Er stand auf, und langsam kamen auch die anderen aus der Deckung.

      »Macht endlich die Kreuzung frei!«, schrie einer.

      »Holt ’n Panzerspähwagen, der kann ihn rausziehen!«, rief ein anderer.

      Klingler lief zu seinem Krad, stieg auf, gab Gas. Hier hatte er nichts mehr zu suchen.

      Zwanzig Minuten später war er in Aachen.

      Langsam fuhr er durch den erstickenden Staub und Qualm, der über der Stadt lag. Der Dom schien unversehrt, aber sonst war Aachen ein Trümmerhaufen.

      Klingler versuchte es durch eine Seitenstraße. Dort stand ein ausgebrannter Straßenbahnwagen und daneben lagen zwei halbverkohlte Leichen. Und erst jetzt registrierte er den süßlichen Leichengeruch, der ihn die ganze Zeit über begleitet hatte und der mit der Staubund Dunstglocke über der Stadt lag. Weiß Gott, wie viele Menschen unter diesen Trümmern lagen …

      Und immer neue Sperren und Umleitungen. In einer breiten Straße, die einigermaßen verschont geblieben war, drängten sich Frauen und Kinder mit Koffern, Taschen und Bündeln. SA-Männer mit nagelneuen Karabinern standen herum und taten wichtig. Weiter unten stand ein Major des Heeres hoch aufgerichtet in seinem Kübelwagen und hielt eine Ansprache an die Zivilisten.

      Welche schrecklichen Veränderungen waren mit Deutschland vor sich gegangen? Das war keine »Heimat« mehr, das konnte nicht die Welt sein, nach der sich Klingler wie alle seine Kameraden gesehnt hatte: Frieden, Ruhe, zärtliche Frauenhände, weichklingendes Mädchenlachen … Die Frauen trugen farblose Kopftücher, ihre Gesichter waren grau und verbittert, grau waren ihre Kleider … eine graue, freudlose Welt in Aufruhr und Angst.

      So schnell wie möglich wollte er aus dieser aus den Fugen geratenen Welt zurück zu den Seinen. Die Seinen: Das war seine Einheit. Die gepeinigte Stadt blieb zurück. Klingler atmete auf.

      Am Beginn einer Senke musste er scharf abstoppen. Mit dem Rücken zu ihm versperrte eine dicht gestaute Menschenmenge die Straße. Klingler hupte laut und anhaltend. Niemand beachtete ihn. Wütend stieg er ab und ging hin. Es waren Zivilisten, fast nur Frauen in abgetragenen Jacken, und sie alle starrten auf eine Szene auf der Straße vor ihnen, die Klingler nicht sogleich sehen konnte. Und alle waren sie seltsam still.

      Dann sah er, was dort vorne geschah. Drei Männer – wahrscheinlich waren es Bauern – schleiften einen Fallschirm