gleich, hing er in den Gurten, und nur den Kopf hatte er gehoben, um ihn vor dem Straßenschotter zu schützen.
Klingler schob sich durch die Menge, die ihm nur widerwillig Platz machte.
»Na, endlich!«, sagte eine hohe, scharfe Männerstimme. Von der Seite her, wo er bis jetzt still gewartet hatte, trat ein untersetzter Mann in der gelbbraunen Uniform eines politischen Leiters der Partei zu dem hilflos daliegenden amerikanischen Flieger.
»Steh auf!«
Der Amerikaner rührte sich nicht. Er starrte an dem breitbeinig vor ihm stehenden Parteiführer vorbei. Seine Augen waren leer, ausdruckslos, als hätten der Schmerz und die Furcht jegliches Leben aus ihnen verbannt. Aus einer tiefen Risswunde an seiner Stirn sickerte langsam Blut die Schläfe hinab. Sein linker Arm war gebrochen, seine Uniform zerrissen.
»Steh auf, du Schwein!«
Die Männer stellten den Piloten auf die Beine. Klingler sah, wie der Amerikaner die Lippen zusammenpresste, als wollte er einen Schmerzensschrei unterdrücken. Vorsichtig griff er nach seinem linken, leblos herabbaumelnden Arm, hob ihn und presste ihn mit der gesunden Hand an die Brust. Das Blut aus seiner Stirnwunde lief jetzt über die Augenbraue, verklebte das Auge, tropfte vom Kinn auf die Uniform.
»Haltet ihn fest!«, befahl der politische Leiter den drei Männern und wandte sich dann der Menge zu. Erst jetzt konnte Klingler sein Gesicht sehen: breit, fett, verkniffene Augen. Seine Mundwinkel und das Kinn zitterten vor verhaltener Erregung, und als er sprach, zitterte auch seine Stimme. Er, ein Hoheitsträger der Partei, schrie er, fordere gemeinsam mit dem Reichsminister Dr. Goebbels alle Anwesenden auf, den Mörder in Uniform, den amerikanischen Gangster, der unzählige wehrlose Frauen und Kinder auf dem Gewissen habe, diesen Terrorflieger … Er verhaspelte sich, schluckte und sagte schließlich: »Zu richten!«
Und dann, nach einer kurzen, atemlosen Pause fügte er schrill und hysterisch hinzu: »Totschlagen! Schlagt ihn tot!«
Klingler sah das Grauen in den Augen des Amerikaners, er starrte auf die Wunde auf seiner Stirn und sah plötzlich eine andere Wunde an der gleichen Stelle: Leuchtend rotes Blut, so rot wie dieses hier, lief über die schwarze Haut des amerikanischen Postens, den er bei seiner Flucht niedergeschlagen hatte. Und er wusste jetzt, was er zu tun hatte.
»Einen Augenblick!«
Klingler rief es laut, bestimmt, schob zwei, drei Frauen, die vor ihm standen, rücksichtslos beiseite und ging schnell auf den Parteiführer und den Amerikaner zu.
»Hände weg!«
»Wer – wer sind Sie überhaupt?«
Der politische Leiter sah Klingler an, als erwache er aus einem Traum.
»Er ist ein Kriegsgefangener. Hände weg!«
Klingler senkte den Lauf seiner Maschinenpistole, lud durch, legte die Handfläche um den Kolben. Die drei Männer ließen den Amerikaner zögernd frei. Er sank langsam zu Boden und blieb dort sitzen, wobei er mit der gesunden Hand vorsichtig den gebrochenen Arm hielt.
»Weg von ihm!«
Die Männer wichen vor Klinglers Maschinenpistole und vor seinem entschlossenen Gesicht zur Seite und mischten sich unter die anderen. Aus der Menge hinter Klingler kam drohendes Gemurmel, und eine hohe Frauenstimme keifte: »Mörderfreund!«
Klingler drehte sich langsam um. Er sah in bleiche Gesichter, die Augen drohend und voller Hass. Die Menge schob sich langsam näher. Und dazu die schrille Stimme des politischen Leiters, die zeterte: »Volksgenossen – sollen wir uns das bieten lassen?«
Klingler wurde plötzlich sehr ruhig. Das war die Ruhe, die ihn im Gefecht manchmal überkam, und in der an die Stelle der Furcht Leere traten und Kälte. Er fühlte mehr, als dass er sah, dass der politische Leiter seine Pistolentasche aufnestelte. Blitzschnell trat er einen Schritt näher zu ihm, ließ den Kolben der Maschinenpistole los und schlug ihm mit dem Handrücken in sein feistes Gesicht.
Er wusste genau, dass ihn das vors Kriegsgericht bringen konnte, aber genau so klar wusste er, dass er diese aufgepeitschte Menge allein durch die Drohung mit der Maschinenpistole nicht würde zurückhalten können. Es blieb ihm jetzt nur eines übrig: die Macht des Einpeitschers zu brechen.
Der Braune ließ die Pistolentasche los, taumelte zurück und bedeckte sein Gesicht mit der Hand.
Es wurde totenstill.
»Ich habe gesagt, Hände weg. Sonst schieße ich!«
Klingler hatte nicht laut gesprochen, aber seine Worte schnitten rasiermesserscharf in die Stille, und seiner Stimme war anzumerken, dass er es ernst meinte. Der Amerikaner sah ihn mit großen, erstaunten, ungläubigen Augen an.
»Weg von hier! Alle!« Klingler sagte es mit der gleichen leisen und dennoch überall vernehmbaren Stimme. Und dann brüllte er den Parteibonzen im Kommandoton an: »Sie zuerst. Los, abhauen!«
Der Goldfasan duckte sich wie unter einem neuen Schlag. Auf seinem bleichen, breiten Gesicht standen dicke Schweißtropfen. Unsicher blickte er zuerst auf-Klingler, dann auf die Maschinenpistole, drehte sich um, ging einige Schritte auf seinen Wagen zu, blieb stehen und sagte zurück über die Schulter: »Wir sprechen uns noch. Verlassen Sie sich drauf! Ich bin Gauamtsleiter Beutler. Merken Sie sich den Namen. Ich werde Sie finden, ich werde …«
»Hau ab!«, knurrte Klingler verdrossen, und dann zu der Menge: »Und ihr auch!«
»Zigarette?«, fragte er etwas später den Amerikaner, während der Mercedes des politischen Leiters in einer Staubfahne davonrollte und die anderen sich langsam in Bewegung setzten.
Der Amerikaner nickte. Über sein schmutziges, blutverkrustetes Gesicht liefen Tränen. Klingler konnte es nicht mitansehen. Ungeschickt suchte er in der Tasche nach einer Packung Zigaretten, machte sie auf, zündete eine Zigarette an und schob sie dem Amerikaner zwischen die Lippen. Dann auch eine Zigarette für sich selbst. Während sie rauchten, wurden sie ruhiger.
»Das war aber knapp!«, sagte Klingler.
Der Amerikaner nickte, obwohl er Klingler nicht verstanden hatte. Und dann sah Klingler, wie sich über sein Gesicht ein Lächeln ausbreitete, bis es langsam die immer noch entsetzten Augen erreichte.
»Thanks!«, sagte er, nur das, und Klingler lächelte zurück. Kurze Zeit darauf übergab er den Amerikaner zwei Landesschützen, die auf dem Weg nach Aachen waren. Beide waren über sechzig, trugen schwer an ihren langen französischen Gewehren, und beide sahen mit großem Respekt zu dem Feldwebel auf.
»Passt gut auf! Da treiben sich Leute herum, die ihm an die Pelle wollen.« Er sah in die Richtung, in der die Meute abgezogen war. Zwei, drei standen noch vorn am Waldrand und blickten zurück. »Wenn’s nicht anders geht, dann schießt. Bringt ihn zum …«
»Ich weiß Bescheid, Herr Feldwebel«, sagte der eine der beiden Schützen. »Da gibt’s so ein Lager in einer Kaserne. Da sitzen haufenweise Gefangene ’rum.«
»Ihr seid mir für ihn verantwortlich, verstanden?«
»Jawohl, Herr Feldwebel.«
Bevor Klingler weiterfuhr, nickte er dem Amerikaner beruhigend zu, als wollte er sagen: Keine Angst, jetzt passiert dir nichts mehr. Der Amerikaner winkte zurück, und seine Zähne leuchteten weiß auf in einem breiten, dankbaren Lächeln.
»’ne Menge Glück gehabt«, sagte der eine Landesschütze zu dem Amerikaner, der humpelnd zwischen ihnen ging. »Wäre der Feldwebel nicht gekommen …«
»Wir haben es von Weitem gesehen«, sagte der andere. »Junge, Junge, sind die Leute verrückt heutzutage.«
Und der Erste wieder: »Ich heiße Fritz, verstehst du? Und der da heißt Franz. Und – wie heißt du?«
Der Amerikaner zuckte fragend die Schultern.
»Wie du heißt, habe ich gefragt, Name, verstehen?«
»Oh, I am Chris, you know? Christoph Weng.«
»Was hat er gesagt?«,