»Ich muß Anfang nächsten Monats für sechs Wochen nach Ägypten, Dr. Norden. Ich kann mich nicht drücken. Es ist zu wichtig für unsere Firma. Was soll ich nur mit Toby machen? Ich kann ihn doch nicht mitnehmen.«
»Auf keinen Fall«, sagte Dr. Norden rasch. »Aber da fangen doch die Ferien an. Sie könnten ihn in ein Heim geben.«
Dr. Stahls Miene verdüsterte sich noch mehr. »Und gerade das wollte ich vermeiden«, sagte er tonlos. »Wir haben ihn doch aus einem Heim geholt.«
Dr. Norden sah ihn fassungslos an. »Toby ist nicht Ihr Kind?« fragte er. Warum haben Sie mir das noch nicht gesagt?«
»Er ist mein Kind«, sagte Dr. Stahl ruhig. »Ich liebe ihn über alles. Ich habe gedacht, Marianne würde ihre Depressionen überwinden, wenn sie das Kind hätte, aber ich wußte lange nicht, daß ihr Leiden auch organischer Natur war. Leider sind wir da anscheinend immer an die falschen Ärzte geraten, die uns keine Aufklärung gaben. Sie wissen, daß meine Frau an Urämie starb. Die Depressionen waren nur Nebenerscheinungen. Als wir Tobias adoptierten, war sie glücklich. Für mich spielt es keine Rolle, wer seine Eltern waren. Ich könnte ein eigenes Kind nicht mehr lieben als ihn. Aber ich habe eben leider auch einen Beruf, und außerdem bekommt man keine Hilfe, der man ein so sensibles Kind wirklich anvertrauen kann. Diese Weiber denken immer nur daran, sich bei einem Witwer ein angenehmes Leben zu verschaffen oder ihn gar aufs Standesamt schleppen zu können. Bitte, seien Sie nicht böse, wenn ich das so drastisch sage, aber leider habe ich es nun oft genug mitgemacht. Die letzte, diese Lisa, war besonders schlimm. Als sie merkte, daß sie nicht bei mir landen konnte, hustete sie den Jungen buchstäblich an. Ich würde das wahrscheinlich nicht so deutlich sagen, wenn ich nicht solche Wut im Bauch hätte.«
»Sprechen Sie sich ruhig aus, für den Hausarzt ist das wirklich ganz interessant«, sagte Dr. Norden. »Wenn ich schon vorher gewußt hätte, daß Tobias ein adoptiertes Kind ist, hätte ich nicht an mir selbst zweifeln müssen.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Dr. Stahl erstaunt.
Dr. Norden betrachtete ihn, sein kluges, interessantes Gesicht, das eine große Willenstärke verriet, die dunklen Augen, die einen fast melancholischen Ausdruck hatten, den Mund, der das Lachen verlernt zu haben schien.
»Ich habe Tobias auf Herz und Nieren untersucht, wie man so sagt. Er hat kein organisches Leiden«, erklärte Dr. Norden. »So habe ich immer überlegt, woher diese Überempfindlichkeit kommt.«
»Weil er diese Weiber nicht ausstehen konnte«, sagte Jochen Stahl. »Mir ist das jetzt klargeworden. Ich bin kein Frauenverächter, Dr. Norden, aber anscheinend gerate ich immer an die Falschen und Toby hat mehr Instinkt als ich. Das nächste Mal soll er die Haushälterin aussuchen. Aber vorerst muß ich den Jungen irgendwo unterbringen, wo er bestens versorgt wird.«
»Dabei kann ich Ihnen behilflich sein«, sagte Dr. Norden. »Es gibt mehrere Heime, die mir bekannt sind.«
»Dann sagen Sie mir das allerbeste. Ich will es mir anschauen, bevor ich für Wochen von hier weg und mich von dem Jungen trennen muß.«
Dr. Norden überlegte. »Da Toby Höhenluft gut tun würde, könnte ich den Tannenhof vorschlagen. Es fragt sich nur, ob man dort noch Platz hat. Wenn es Ihnen recht ist, rufe ich morgen an. Es ist das beste Heim, allerdings auch das teuerste.«
»Das ist nebensächlich«, sagte Dr. Stahl. »Und noch eins, Dr. Norden, Toby darf nie erfahren, daß er ein adoptiertes Kind ist. Er darf nie daran zweifeln, daß ich sein Vater bin. Sie können mich für sentimental halten, aber dieses Kind bedeutet mir alles.«
»Von mir wird er es bestimmt nicht erfahren, daß er nicht Ihr Kind ist«, sagte Dr. Norden, aber als er nach Hause fuhr, kam ihm der Gedanke, ob Tobias nicht doch Jochen Stahls Sohn sein könnte. Gab es denn das, daß ein Mann ein fremdes Kind so lieben konnte? Ein Mann, wie dieser Jochen Stahl?
Doch an diesem Tag konnte Dr. Norden noch nicht ahnen, wie aufregend sich Dr. Jochen Stahls und seines Sohnes Tobias Leben noch gestalten sollte.
*
»Ruf doch bitte morgen mal im Tannenhof an, Fee«, bat Daniel Norden seine Frau. »Du kommst mit Mutter Hedwig am besten zurecht.«
»Wenn du mir sagen würdest, worum es geht, mein Schatz?« fragte Fee mit einem nachsichtigen Lächeln.
»Um Tobias Stahl. Sein Vater muß für sechs Wochen ins Ausland.«
»Ist ihm die Haushälterin schon wieder mal davongelaufen?« fragte Fee.
»Du hast es erfaßt, Feelein.«
»Woran mag das nur liegen?« meinte sie schelmisch.
»Wahrscheinlich weißt du das auch besser als ich«, erwiderte Daniel nachdenklich.
»Ein gutaussehender Mann in bester Position und in den besten Jahren«, sagte sie. »Da sind die Interessen gewisser Frauen sehr einseitig.«
»Es scheint so. Er ist ein sympathischer Mann. Die nächste Hausdame wird er von Tobias aussuchen lassen.«
Fee lachte leise. »Ich finde es besonders sympathisch, daß er auf die Meinung seines Sohnes etwas gibt.«
»Nur auf seine«, bemerkte Daniel, aber er war diesmal nicht bereit, Fee zu sagen, daß Tobias ein adoptiertes Kind war. Er hielt sich an sein Wort. »Er würde den Jungen auch mitnehmen, aber Ägypten wäre bestimmt nicht das richtige Klima für Tobias.«
»Ägypten könnte mich auch interessieren«, bemerkte Fee.
»Könntest du nicht mit der Tutanchamon-Ausstellung vorliebnehmen?« fragte er lächelnd.
»Nur, wenn du mitkommst!«
»Soll ich mich stundenlang anstellen? Liebe Güte, mute mir das nicht zu. Ich bin wohl ein Kunstbanause, Fee. Abgesehen von Musik. In ein Konzert könnten wir mal wieder gehen.«
»Ich werde mich bemühen, Karten zu bekommen. Hoffentlich hast du dann aber auch Zeit«, sagte sie gleichmütig. »Also keine Aussicht, mal nach Ägypten zu reisen?«
»Wenn du unbedingt willst«, seufzte er.
»Es muß nicht sein. Die Einladungen nach Amerika, England, Frankreich, Spanien und Schweden stapeln sich schon. Aber es ist abzusehen, daß ich liebe Dankesbriefe schreiben und der Hoffnung Ausdruck geben muß, daß man sich in München mal wiedersieht. Dann werde ich also morgen Mutter Hedwig anrufen, damit Tobias gut untergebracht wird.«
Und sie tat es. Da konnte Fee dann auch große Freude erleben, denn Hedwig Scheibele, die im Tannenhof Mutter Hedwig genannt wurde, gehörte zu Dr. Nordens dankbarsten Patientinnen. Durch ihn war die ehemals schilddrüsenkranke Frau gesund geworden und hatte diese Lebensstellung gefunden, in der sie aufging. Und wenn sie etwas für Dr. Norden tun konnte, tat sie es auch.
»Wir richten das schon ein, Frau Doktor«, bekam Fee zur Antwort auf ihre Bitte. »Sagen Sie mir nur Bescheid, wann der Junge kommt.«
*
Das konnte Dr. Norden dann Jochen Stahl berichten. »Wenn nur Toby einverstanden ist«, seufzte der. »Das ist meine größte Sorge.«
»Ich erkläre es ihm«, sagte Dr. Norden, und wieder emmal konnte er beweisen, wie gut er mit Kindern umzugehen verstand.
»Heute geht es ja schon wieder viel besser, Toby«, begann er.
»Jetzt brauche ich mich auch nicht mehr über Lisa aufzuregen«, flüsterte der Junge, aber dabei schielte er immer zur Tür.
»Wir können uns allein unterhalten. Dein Papi muß noch dringende Telefonate erledigen«, erklärte Daniel Norden. »Gestern hast du gesagt, daß es dich aufregt, weil dein Papi wegfahren muß. Aber das muß nun mal sein, Toby. Es ist sein Beruf, dort die Aufsicht zu führen, wo etwas Wichtiges gebaut wird. Ich meine, du kannst stolz sein, daß er das Vertrauen des obersten Chefs genießt.«
»Ich bin auch stolz auf meinen Papi. Aber ich kann doch nicht allein hierbleiben, und wenn er mich mitnimmt und ich dort krank werde, ist es auch schlimm