bisher bloß die Samen im Gebrauche gewesen sind, so scheinen doch andre Theile der Pflanze wirksamer zu sein und höhere Aufmerksamkeit zu verdienen» (HAHNEMANN 1797: 266).
Indischer Hanf kommt nach Europa
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es der Franzose Pierre Sonnerat, der nach einer Orientreise nicht nur vom Indischen Hanf berichtete, sondern auch Exemplare davon nach Frankreich brachte. Auch Napoleon Bonapartes Ägyptenfeldzug machte erneut auf Haschisch aufmerksam. Man begann sich – vorerst noch etwas zögerlich – für diese «neue» Pflanze zu interessieren. Im Jahre 1823 erschien im renommierten Hufeland-Journal ein Artikel über den Gebrauch des indischen Hanfextraktes:
«Das Extraktum (Foliorum?) Cannabis wurde in der Poliklinik in Berlin gegen Tussis convulsiva [Keuchhusten] in einem Falle mit schneller Hülfe gebraucht und dasselbe in Pulver mit Zucker zu 4 Gran täglich verordnet» (DIERBACH 1828: 420).
Die erste ausführliche Beschreibung zur Verwendbarkeit des Indischen Hanfs in Europa lieferte im Jahr 1930 der Apotheker und Botaniker Theodor Friedrich Ludwig Nees von Esenbeck, er schreibt:
«Mehrere Ärzte, auch Hahnemann, geben das weinige Extrakt gegen mancherlei Nervenbeschwerden, wo man sonst Opium oder Bilsenkraut anwendet» (NEES V. ESENBECK, EBERMAIER 1830: 338-339).
Trotzdem war die Bedeutung des Indischen Hanfs in der Arzneimitteltherapie noch marginal:
«Wichtiger ist der Gebrauch des Hanfsamens in Emulsionen oder Aufgüssen und Abkochungen, als eines beruhigenden, einhüllenden und reizmindernden Mittels bei Heiserkeit, Husten, Durchfall und besonders bei Krankheiten der Harnwerkzeuge, namentlich des Trippers» (NEES V. ESENBECK, EBERMAIER 1830: 338-33).
Dies sollte sich nun grundsätzlich ändern, denn aus Indien folgten neue Erkenntnisse.
Eine folgenreiche Studie
Im Jahr 1839 veröffentlichte der im indischen Kalkutta stationierte irische Arzt William B. O’Shaughnessy eine umfassende Studie über den Indischen Hanf. Seiner Arbeit mit dem Titel On the Preparations of the Indian Hemp, or Gunjah ist es hauptsächlich zu verdanken, dass sich der Indische Hanf in der Folge auch in der europäischen Schulmedizin etablieren konnte. O’Shaughnessy erläutert zuerst einige Tierversuche, bei denen er mit traditionellen indischen Hanfzubereitungen arbeitet.
Im Hauptteil seiner Arbeit geht der Autor auf seine vielfältigen Versuche am Menschen ein. Er verwendet verschiedene Hanfpräparate (zum Beispiel Tinktur und Pillen) mit teilweise großem Erfolg bei den folgenden Indikationen: Rheumatismus, Hydrophobia (Tollwut), Cholera, Tetanus (Starrkrampf), Konvulsionen (Krämpfe), Delirium tremens (Alkoholentzugssyndrom). Zu jeder Indikation liefert O’Shaughnessy mehrere Fallbeispiele und hält Beobachtungen fest. Bei den meisten genannten Indikationen waren Krämpfe ein zentrales Problem. Mit den Cannabispräparaten fand er gute Mittel, um seinen Patienten Linderung zu verschaffen oder sie sogar ganz von diesen Symptomen zu befreien. Er schrieb:
«Die vorliegenden Fälle geben zusammengefasst meine Erfahrungen mit Cannabis indica wieder und ich glaube, dass dieses Heilmittel ein Antikonvulsivum [=Entkrampfungsmittel] von größtem Wert ist» (O'SHAUGHNESSY 1838–40: 29).
Die westliche Schulmedizin reagierte prompt auf diese neuen Erkenntnisse aus Indien. Dies ist nicht erstaunlich, denn bis dahin hatte sie den noch nicht als Infektionskrankheiten erkannten Problemen wie Tollwut, Cholera oder Starrkrampf relativ hilflos gegenübergestanden. Aus den Ergebnissen von O’Shaughnessy schöpfte man große Hoffnungen. Der Startschuss zu einer vielversprechenden Karriere der Medizinalpflanze Cannabis indica war gefallen.
Abb. 4: Reprint der ersten Seite der Studie von W. B. O’Shaughnessy (Ausschnitt), 1839.
Die Franzosen waren die Ersten, die sich intensiv mit dieser indischen Variante des einheimischen Hanfes beschäftigten. Bereits im Jahr 1840 benutzte der in Ägypten ansässige französische Arzt Louis Aubert-Roche das Haschisch anscheinend erfolgreich gegen Pest: er gab an, in sieben von elf schweren Fällen die Betroffenen mit Cannabis geheilt zu haben. Gleichzeitig begann sein Landsmann und Freund, der später berühmt gewordene Psychiater Jacques Joseph Moreau de Tours, mit Haschisch zu experimentieren.
Moreau de Tours war schon bald davon überzeugt, dass in der Psychiatrie von allen bekannten Medikamenten der Indische Hanf das Mittel der Wahl sei. Sein 1845 veröffentlichtes Buch Du Hachisch et de l’aliénation mentale erregte damals großes Aufsehen und gilt heute als Ursprung der experimentellen Psychiatrie (WEBER 1971: 8).
Ein besonderer Klub
Nicht nur in medizinischen Gremien fanden die Ausführungen von Moreau de Tours Beachtung, sondern auch in Literaten- und Künstlerkreisen. So kam es, dass der Schriftsteller Théophile Gautier Haschischproben von Moreau de Tours erhielt und im Jahre 1843 unter dem Titel «Le Club des Hachichins» in der Pariser Zeitung La Presse einen Haschischrausch ausführlich beschrieb. Von nun an kam der von Gautier mitbegründete «Klub der Haschischesser» regelmäßig im Hôtel Pimodan (heute: Hôtel de Lazuzun) in Paris zusammen, und die Erfahrungen mit Hanf wurden zum Teil veröffentlicht (GRINSPOON 1994: 70-85).
Prominente Mitglieder des Klubs waren nebst Gautier die Schriftsteller Charles Baudelaire und Gérard de Nerval, die Maler Joseph Ferdinand Boissard de Boisdenier und Eugène Delacroix sowie der Karikaturist Honore Daumier. Auch der Schriftsteller Alexandre Dumas war Mitglied des Klubs und ließ seine Erfahrungen mit Cannabis in seinen bekannten Roman Der Graf von Monte Christo einfließen. Andere bekannte Zeitgenossen wie die Schriftsteller Honore de Balzac und Gustave Flaubert waren gelegentlich bei den Treffen anwesend, lehnten aber Selbstversuche mit Haschisch ab. Selbst der große Literat Victor Hugo soll Gast dieses exklusiven Klubs gewesen sein. Der Klub wurde 1849 wieder aufgelöst.
Cannabis indica etabliert sich
Die erfolgversprechenden Resultate der Pioniere O’Shaughnessy, Aubert-Roche und Moreau de Tours veranlassten viele Ärzte dazu, das neue Heilmittel in der Therapie einzusetzen. Vorerst waren es vor allem Ärzte der Kolonialmächte England und Frankreich, die sich für den therapeutischen Einsatz von Indisch-Hanf-Präparaten zu interessieren begannen. Die dazu nötigen Rohstoffe oder Präparate wurden in beachtlichen Mengen aus den Kolonien (vor allem aus Indien, zum Teil auch aus Ägypten und Algerien) nach Europa importiert (ROBERTSON 1847: 70-72).
Anfänglich übernahmen die Ärzte die von O’Shaughnessy bekannten Anwendungsgebiete, später wurde das Therapiefeld für Cannabispräparate wesentlich erweitert. Eine der Hauptindikationen blieb aber weiterhin der Starrkrampf. Damit befasste sich auch der bulgarische Arzt Basilius Béron, der sich in seiner 1852 erschienenen Dissertation Über den Starrkrampf und den indischen Hanf als wirksames Heilmittel gegen denselben intensiv diesem Thema widmete. Die Schlussfolgerung seiner Arbeit lautete:
«Ich war so glücklich, dass, nachdem wir fast alle bis jetzt bekannten antitetanischen Mitteln fruchtlos angewandt, nach der Anwendung des indischen Hanfes der mir zugetheilte Kranke vom Starrkrampf ganz geheilt wurde […] weswegen der indische Hanf dringend gegen den Starrkrampf zu empfehlen ist» (BERON 1852: 5, 48).
Zwei Jahre nach Béron veröffentlichte Franz von Kobylanski in Würzburg seine Doktorarbeit über Cannabis als Mittel gegen Wehenbeschwerden. Anders als der Engländer Alexander Christison, der sich ebenfalls mit dieser Thematik befasste, kam Kobylanski zum Schluss, dass der Indische Hanf