man sich in Europa ernsthaft mit der militärischen Kampfkraft der Muslime befasst hätte, schien mir Jahrzehnte zurückzuliegen. Christopher Dawson, Bernard Lewis und Arnold Toynbee allerdings – um nur einige zu nennen – waren sich über die Tragweite dieser Frage im Klaren.
Allem Anschein nach hatten sich die Wissenschaft, Philosophie, Theologie, Ökonomie und Literatur der neueren Zeit vor allem mit Fragen beschäftigt, die innerhalb der westlichen Zivilisation selbst aufkamen. Europa hatte in die übrige Welt einschließlich Chinas, Indiens, Afrikas sowie Nord- und Südamerikas expandiert. Die Schiffe der europäischen Mächte waren um das südliche Afrika herumgesegelt, das heißt, sie hatten die muslimische Welt, die die Landrouten in den Osten beherrschte, ganz einfach umgangen. Rund 200 Jahre lang waren die islamischen Gebiete von den Briten, Franzosen, Niederländern, Italienern, Portugiesen oder Russen kontrolliert gewesen. Die Deutschen hatten Interesse am Nahen Osten und an Teilen Afrikas bekundet und dort ihren Einfluss ausgeübt. Die Muslime galten größtenteils als rückständig, fanatisch und einer umfassenden Reform und Erziehung im westlichen oder gar christlichen Sinne bedürftig. Der intellektuelle Diskurs war weitgehend von den Fragestellungen der deutschen, englischen und französischen Philosophie beherrscht. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war überwiegend von Marx geprägt.
Vor diesem Hintergrund geht meine Aufmerksamkeit für den Islam als Weltmacht, mit der man rechnen muss, auf meine erste Lektüre von Hilaire Bellocs 1937 erschienenem Buch The Crusades zurück. Das Ende habe ich nie vergessen. Dort hieß es, dass der Islam, sollte er jemals wieder so mächtig werden wie einst, auch dasselbe tun würde wie damals: im Namen Allahs expandieren.
In den ersten zwei Jahrhunderten nach Mohammed eroberten muslimische Armeen Nordafrika, Spanien, den Nahen Osten und Teile Südeuropas und gelangten ostwärts bis nach Indien. Was mich – für manche vielleicht unverständlich – an Bellocs Ausführungen am meisten beeindruckte, war seine Erkenntnis, dass eine tot geglaubte Idee oder religiöse Bewegung jahrhundertelang schlafen und dann zurückkehren kann, um ihre ursprüngliche Mission zu erfüllen. In den Jahrzehnten zwischen Bellocs Buch und den Ereignissen im Vorfeld der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon (2001) war die Welt mit Kräften wie dem Nationalismus, dem Marxismus, der Demokratie und dem Sozialismus beschäftigt, die auch in den islamischen Gebieten nicht ohne Wirkung blieben.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nahmen mehrere Kommentatoren Bezug auf das, was Belloc in seinem Buch The Great Heresies geschrieben hatte: dass die christliche Zivilisation weniger als 100 Jahre vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg um ein Haar von einer muslimischen Armee überrannt und vernichtet worden wäre. »Wien […] wurde beinahe erobert und nur von der christlichen Armee unter dem Befehl des Königs von Polen gerettet – an einem Datum, das eigentlich zu den berühmtesten in der Geschichte zählen sollte: dem 11. September 1683.«1 Und – für diejenigen, die solche Geschichten mögen – noch einmal gut 100 Jahre früher konnte die Insel Malta einen massiven türkischen Flottenangriff unter dem Kommando von Sultan Süleyman des Prächtigen abwehren. Die berühmten Malteserritter unter Jean Parisot de La Valette hielten stand, töteten den algerischen Admiral Dragut und sahen zu, wie die geschlagene Flotte davonsegelte. Das war am 11. September 1565.
Die Anschläge vom 11. September 2001 auf amerikanischem Boden waren schockierend, doch was mich persönlich auf die Vorgänge in der islamischen Welt aufmerksam werden ließ, war etwas, das sich einige Jahre zuvor in einem entlegenen, von französischen Trappistenmönchen bewohnten Bergkloster in Algerien zugetragen hatte. Später ist daraus ein ergreifender französischer Film entstanden (Von Menschen und Göttern, 2010). Auf die schiere Brutalität, mit der diese Männer ermordet worden waren, war ich nicht vorbereitet gewesen. Mittlerweile haben wir uns durch die öffentlichen Enthauptungen von Christen in muslimisch kontrollierten Ländern beinahe daran gewöhnt. Dass sich jeder beliebige Mensch all diese Geschehnisse in ihrer ganzen Grausamkeit bewusst machen kann, wenn er einfach nur hinsieht, ist einer der Gründe, die mich bewogen haben, im Folgenden diese Chronik meiner eigenen Reaktionen und Analysen zu einer Reihe von Ereignissen vorzulegen, die sich zwischen 2002 und 2018 zugetragen haben. Eine Kollegin, mit der ich vor mehreren Jahren in Georgetown zusammengearbeitet habe, war mit dem polnisch-französischen Schriftsteller Laurent Murawiec verheiratet, der die blutige Geschichte des Islams sehr genau verfolgt hat. Ich bin keineswegs der Ansicht, dass die Geschichte des Islams ausschließlich blutig ist. Es ist nur so, dass das Blutvergießen ein Teil seiner Geschichte ist – ein Teil, der gerade jetzt, in unserer Zeit, weitergeschrieben wird und an Bedeutung gewinnt.2
Ich beende diese Einleitung mit einem Artikel, den ich verfasst habe, nachdem ich zum ersten Mal von der Ermordung der guten und unschuldigen Mönche gehört hatte. Die Erinnerung daran soll in die nachfolgende Chronik zu verschiedenen Ereignissen und Fragen einführen, die mit dem erwachenden Selbstbewusstsein des Islams und seiner Erschließung neuer spiritueller und dschihadistischer Energiequellen nach und nach überall auf der Welt akut geworden sind. Das vorliegende Buch ist eine Art Ideengeschichte, die zeigt, wie ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass der Islam ein bedeutender Faktor im aktuellen Weltgeschehen ist. Es ist kein »islamfeindliches« Buch. Ehrlich gesagt muss man den Islam als politischer Beobachter geradezu dafür bewundern, wie es ihm gelungen ist, seine expansive Dynamik in unsere Zeit hinüberzuretten. Und man beginnt zu begreifen, weshalb die westliche Welt die volle Bedeutung dieser Dynamik nicht ermisst.
Im Grunde denke ich, dass der Islam genau das ist, was er zu sein behauptet: eine Religion, die nach wie vor die Mission hat, alle Menschen der Herrschaft Allahs zu unterwerfen. Mein eigentliches Problem mit dieser Mission – die im Koran selbst ihre Wurzeln hat – betrifft nicht den bemerkenswerten Erfolg und die Ausbreitung des Islams. Mein Problem betrifft seine Wahrhaftigkeit. Der praktisch einzige Ort, an dem man heutzutage über solche Dinge sprechen kann, ist ein Buch. Eine öffentliche Diskussion findet nur selten statt, und mit den akademischen Diskussionen sieht es kaum besser aus. Ich behaupte nicht, ein beschlagener Islamwissenschaftler zu sein. Aber ich glaube, dass wir das, was ein Einzelner oder eine Gruppe im Laufe der Zeit tut, mit gesundem Menschenverstand betrachten und beurteilen können. Am Ende bilden wir uns eine Meinung, die am ehesten geeignet ist, das, was wir beinahe täglich sehen und beobachten, zu erklären.
Aus einer Reihe von Gründen – angefangen beim Niedergang des Christentums in der westlichen Welt, der sich in Europa und Amerika insbesondere in den rückläufigen Geburtenzahlen äußert, bis hin zum Erfolg der Muslime, die überall in Europa und Amerika Enklaven errichten, die von ihnen kontrolliert werden – sieht der Islam einer glänzenden Zukunft entgegen. Wenn die islamische Expansion ins Stocken gerät oder sich verlangsamt, dann nur vorübergehend. Die Stadt Tours im 8. und Wien im 16. Jahrhundert konnten der muslimischen Invasion in Europa Einhalt gebieten, aber nur zeitweise. New York und Paris sind heute ebenfalls Schauplätze dieser Schlacht, doch auch sie sind nicht die letzten Orte, an denen wir solche Dinge erleben werden.
Sprechen wir also – in einem ersten Versuch, die aktuelle Lage zu verstehen – über dieses Blutbad in Algerien. Damals hat es mich wachgerüttelt und mir ist klar geworden, womit die Welt es zu tun hat. 1996 schien das, was den französischen Mönchen in ihrem Kloster in den Atlasbergen widerfahren war, noch ein isoliertes Geschehen zu sein. Heute ist es in ganz unterschiedlichen Gegenden der Welt alltäglich geworden.
Wenn ich mir diesen »Zwischenfall« – falls ein so neutrales Wort hier überhaupt angebracht ist – ins Gedächtnis rufe, dann kommt mir in den Sinn, was Robert Royal in seinem Buch The Catholic Martyrs of the Twentieth Century3 geschrieben hat. Viele dieser Menschen, so Royal, werden im Verborgenen getötet. Niemand nimmt es zur Kenntnis. Sie sind gestorben und haben mit ihrem Tod Zeugnis abgelegt. Ich denke an das 15. Kapitel bei Johannes, wo es heißt: »Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben. Aber weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt. […] Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.« Dieses Gehasstwerden für das, was man ist, scheint mir genau auf uns zuzutreffen, und zwar nicht nur gegenüber der muslimischen, sondern auch gegenüber unserer eigenen Welt mit ihrer inzwischen weitgehend »verhassten« christlichen Vergangenheit. Das vorliegende