James V. Schall SJ

Der Islam


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sie ohnehin schon die höchsten moralischen Normen repräsentieren, Gottes Willen tun oder die »beste aller möglichen Regierungen« haben – unabhängig davon, was diese nach klassischen philosophischen Maßstäben tatsächlich verkörpern. Doppelt schwierig wird dieses Unterfangen, ein gegebenes politisches System zu identifizieren, wenn das Regime sich zudem direkt oder indirekt als das Ergebnis oder Werkzeug von Normen definiert, die in einer Offenbarung oder Religion wurzeln. In diesem Fall haben wir es nicht länger mit einem Regime im Sinne einer rein politischen Größe, sondern mit einer Regierungsform zu tun, die transzendente Ursprünge oder Legitimationen für sich in Anspruch nimmt. Damit stellt sich unweigerlich die Frage nach der Wahrheit der jeweiligen Offenbarung. Wie Leo Strauss gezeigt hat, zogen es muslimische Philosophen im Mittelalter vor, ihre Philosophie im Privaten zu betreiben, weil ihnen bewusst war, welche Probleme es nach sich ziehen konnte, wenn sie öffentlich über die theoretischen Grundlagen des Regimes spekulierten, in dem sie selbst lebten. Nach außen hin tat der Philosoph, was in puncto Frömmigkeit und religiöser Praxis von ihm erwartet wurde. Doch auch wenn er in der Öffentlichkeit so tat, als wäre er religiös, gab er der privaten Philosophie als einer Erklärung für die Wahrheit der Dinge den Vorzug vor der Religion. Diese Entscheidung für den privaten Raum war für einen Philosophen im Islam tatsächlich der einzig gangbare Weg, weiterhin – wenn auch mit Vorsicht – Philosophie zu betreiben und dennoch am Leben zu bleiben.

      Strauss zufolge bedeutete diese Hinwendung zur Philosophie, dass der Philosoph eine Theorie ausarbeiten musste, in der die angebliche Offenbarung, die die öffentliche Ordnung beherrschte, sich ihrerseits der Philosophie unterzuordnen hatte. Die Philosophie urteilte über die Offenbarung, das heißt, der Philosoph hatte den Zweck und den Inhalt der Offenbarung nach rein rationalen Maßstäben zu erklären. Die Fundamente, auf denen die Glaubwürdigkeit der Religion erklärtermaßen beruhte – mit anderen Worten: die politische Theologie der Religion –, waren intellektuell unhaltbar, weil sie von der Philosophie nicht gänzlich verstanden werden konnten. Die Vorstellung etwa, dass der Text des Korans Mohammed direkt und ohne Mittler auf Arabisch mitgeteilt wurde, ist – auch ohne dass man den Inhalt des Buchs auf widersprüchliche oder falsche Lehren überprüft – nach rationalen Begriffen schlichtweg unglaublich.

      Diese Aufgabe, sich – auch wenn man selbst nicht daran glaubte – mit einem muslimischen öffentlichen Leben abzufinden, bewältigten die Philosophen, indem sie die im Koran geschilderte Lebensweise als einen »Mythos« behandelten, der eigens und kunstreich entworfen worden war, damit die Herrschenden die uneinsichtigen Massen auf Kurs halten konnten. Dieses Mythosverständnis ist sehr alt und reicht mindestens bis in die Zeit Epikurs zurück. Schon Aristoteles hatte gesagt, dass ein Tyrann, wenn er an der Macht bleiben will, die örtlichen frommen Gebräuche respektieren solle; er solle die Massen beschäftigen, erschöpfen und unterhalten, aber nicht dulden, dass irgendetwas im Privaten gesprochen werde. Eine ähnliche Position wurde im spätmittelalterlichen Europa von einer Denkrichtung vertreten, die man unter dem Namen »Lateinischer Averroismus« kennt. Ihr zufolge gab es zwei »Wahrheiten«: eine Wahrheit der Offenbarung und eine Wahrheit der Vernunft. Beide durften einander widersprechen – was immer dies letztlich für die Einheit der menschlichen Seele bedeuten mochte. Wir müssen sie nicht miteinander »versöhnen«. Im Rahmen dieser Theorie konnte, wenn alle sie mittrugen, der Philosoph philosophieren und der Gläubige glauben, ohne dass einer von ihnen sich wegen der offensichtlichen Widersprüche zu sorgen brauchte.

      II

      Wenn man bedenkt, dass der Islam in vielerlei Hinsicht der älteste und hartnäckigste Gegner des Christentums gewesen ist – ein Gegner, der nur selten einen Rückweg offenlässt, wie die Situation in den Ländern beweist, die einst, in welchem Jahrhundert auch immer, von muslimischen Armeen oder Kaufleuten erobert worden sind –, dann ist es verwunderlich, wie wenig die Amtskirche bislang über den Islam hat verlauten lassen. Nach wie vor ist offenbar die Summa contra Gentiles des heiligen Thomas die größte von christlicher Seite unternommene Anstrengung zu definieren, was der Islam ist. Obwohl der Islam ein enormes historisches Faktum ist – die am schnellsten wachsende Religion in der Welt von heute, der mindestens ein Fünftel der Weltbevölkerung angehört und die in schöner Regelmäßigkeit überall dort, wo man es ihr erlaubt, neue Moscheen errichten lässt –, gibt es zum Beispiel keine Enzykliken mit dem Titel »Was ist der Islam?«. Wir haben nichts, das sich etwa mit Rundschreiben wie Mit brennender Sorge oder Divini Redemptoris vergleichen ließe, keinen Syllabus errorum und keine Canones, wie sie auf dem Trienter Konzil formuliert worden sind. Fast könnte man meinen, die Kirche hätte den Wahrheitsansprüchen des Islams niemals Bedeutung beigemessen. Wir setzen uns in unseren Dokumenten unter theologischen Gesichtspunkten mit zahlreichen christlichen Irrlehren, nicht aber mit dem Islam auseinander, der in gewisser Hinsicht selbst einmal eine christliche Irrlehre war. Oberflächlich betrachtet scheint dieser Mangel merkwürdig: beinahe als wäre der Islam nicht wichtig genug gewesen, um ihn ernst zu nehmen – oder als wäre damit eine gewisse Gefahr einhergegangen.

      Was wir allerdings haben, sind neuere Verlautbarungen über unsere Gemeinsamkeiten mit dem Islam und anderen Religionen. Unsere zeitgenössische Herangehensweise ist liberal und irenisch (friedliebend, Anm. d. V.): ein Dialog, wenn und wann immer möglich, und niemals Konflikt, auch dann nicht, wenn er provoziert wird. Probleme – einschließlich der vielen im letzten Jahrhundert in islamischen Ländern getöteter Christen – sprechen wir nur sehr ungern und wenn, dann nur auf denkbar allgemeine Weise an, sodass der Eindruck entsteht, nicht der Glaube oder die Praxis des Islams, sondern die westliche Ideologie sei die Ursache aller Probleme. Wir wenden die Analysemethoden westlicher Philosophien oder Ideologien auf islamische Länder an und erwarten uns davon eine Formel, die ihr inneres Ethos erklärt. Wir benutzen wissenschaftliche Methoden, die uns blind machen für das, was vor sich geht. Kurz, wir führen keinen echten Dialog mit den Muslimen, sondern reden mit uns selbst. Es erschreckt uns, wenn Muslime uns aufgrund dessen, was wir über Gott und Christus glauben, als »Ungläubige« bezeichnen. Und das ist nicht einfach eine rhetorische Übertreibung, sondern nennt das beim Namen, was dem Islam als Bedrohung erscheint: ein anderes Gottesbild oder, genauer, die Vorstellung der Dreifaltigkeit und der Menschwerdung. Die Anziehungskraft des Islams scheint zu einem großen Teil direkt von der Leugnung dieses komplexen Gottesbildes abzuhängen, das hochzuhalten und zu verbreiten wir verpflichtet sind.