Frank Goyke

Lüneburger Totentanz


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bekannt vor?«, wollte Anselm wissen.

      »Schon als die ersten Gerüchte zu uns drangen, hatte ich so ein Gefühl. Aber jetzt, nachdem du mir noch einmal den Hergang erzählt hast … Kennst du Josephus Flavius?«

      »Natürlich«, sagte Anselm. Der Spittler füllte den Kräutersud in einen Becher und reichte ihn dem Rostocker. »Ihr denkt an die Geschichte des Judäischen Krieges? Aber was hat das mit dem Mord an Lüdeke Peters zu tun?«

      »Die Sikarier«, sagte der Spittler. Anselm kam das reichlich verschwommen vor.

      »Die Sikarier?«

      »Warte. Ich rufe einen Novizen und lasse mir das Buch aus der Bibliothek beschaffen.«

      Der Spittler verließ die Krankenstation, Bruder Anselm trank langsam den Sud. Er schmeckte gallebitter, und als der Bruder Arzt nach fünf Minuten zurückkehrte, waren die Kopfschmerzen noch immer nicht kuriert. Allerdings regte sich Anselms Magen; plötzlich bekam der Mönch einen Bärenhunger.

      »Wie geht’s?«, erkundigte sich der Spittler.

      »Aufwärts«, log Anselm. Dann brachte der Novize das Buch.

      Der Spittler brauchte fast eine halbe Stunde, um die Textstelle zu finden, auf die er es abgesehen hatte. Bruder Anselm starb währenddessen tausend Tode. Sein Hunger war unmäßig geworden, und in seinem Hirn spielten noch immer Dutzende Posaunisten. Vermutlich hätte er statt des Kräutersuds lieber einen Becher Wein leeren sollen.

      »Hier!« Der Bruder Spittler reichte Anselm das aufgeschlagene Buch. Der Rostocker Mönch las laut, was Josephus Flavius über die Sikarier geschrieben hatte.

      »Sie begingen am hellen Tage und mitten in der Stadt Morde, mischten sich besonders an Festtagen unter das Volk und erstachen ihre Gegner mit kleinen Dolchen, die sie unter der Kleidung versteckt trugen. Stürzten ihre Opfer zu Boden, so beteiligten sich die Mörder an den Kundgebungen des Unwillens und waren durch dieses unbefangene Benehmen gar nicht zu fassen.«

      »Und?«, fragte der Spittler.

      »Der Dolch war eher lang«, erwiderte Anselm.

      »Du verstehst nicht, was ich meine?« Der Spittler war enttäuscht.

      »Doch, Bruder, sehr gut sogar«, sagte Anselm und sprang auf.

      »Ihr seht schlecht aus, Ehrwürdiger Vater«, stellte Martin Grüneberg fest. Der Mönch hatte ihn wie erwartet im Haus des Reyner Stolzfuß angetroffen. Dort war man gerade vom Speisetisch aufgestanden, was dem Mönch wieder seinen Heißhunger in Erinnerung brachte: Das Schlimme war, dass er ihn nicht stillen konnte, denn sein Magen bohrte zwar, Anselm brachte aber keinen Bissen hinunter. Die Wirkung des Kräutersuds ließ immer noch auf sich warten.

      »Der Ritter hat mich geschafft«, bekannte Bruder Anselm.

      »Uns alle«, sagte Grüneberg. »Mit dem kann keiner mithalten.«

      Die Stimmung im Haus war immer noch gedrückt. Vor allem die Frauen und hier wiederum die am Tag zuvor unerwartet zur Witwe gewordene Maria Peters machten einen leidenden, verhuschten Eindruck. Offenbar war viel geweint worden in der letzten Nacht.

      Reyner Stolzfuß unterbreitete den Vorschlag, seinen Gästen aus der Fremde die Saline zu zeigen. Er hatte dort ohnehin zu tun und meinte, ein wenig Ablenkung könnten wohl alle gebrauchen. Wenig später rüstete man zum Aufbruch und befahl den Dienstboten, die Pferde zu satteln. Bruder Anselm schloss sich an. Er war ein schlechter Reiter, aber den Weg zur Saline auf dem Pferderücken zurückzulegen, traute er sich zu.

      Der Sülfmeister Stolzfuß lenkte die kleine Gesellschaft so, dass er den großen Platz Am Sande umging. Dort wurde ein Teil des Salzes zum Verkauf angeboten, dort belud man die Fuhrwerke der Kaufleute, die nach Osten reisten und die Stadt durch das Altenbrücker Tor verließen. Die Johanniskirche schloss den Platz im Osten ab. Reyner Stolzfuß wollte der Witwe den Anblick des Ortes ersparen, an dem ihr Mann Meuchelmördern zum Opfer gefallen war.

      Alle folgten ihm durch die Glocken- und die Untere Schrangenstraße, bis er nach Süden in die Kuhstraße bog. Die Glockengießerstraße wurde gekreuzt, dann die Heiliggeiststraße in Angriff genommen; sie führte direkt auf den Platz, auf dem sich die Lambertikirche erhob, und hinter der Kirche befand sich das Tor zur Sülte.

      Zu spät fiel Reyner Stolzfuß ein, dass der Ritter von Ritzerow im Gasthof Zu den vier trunkenen Sonnen neben dem Heilig-Geist-Spital Quartier bezogen hatte. Nach der Zecherei vom Vorabend mochte ihm niemand begegnen, und unwillkürlich dämpften die Männer ihre Stimmen, als sie an der Herberge vorbeiritten. Jeder nahm offenbar an, der Ritzerow schlafe noch und könne durch zu lautes Sprechen auf der Straße geweckt werden.

      Sie hatten sich geirrt. Der Ritter, der in der Gaststube beim ersten Schoppen Wein gesessen und aus dem Fenster geschaut hatte, war rascher bei seinen neuen Freunden, als diesen lieb war. Natürlich war es nicht möglich, ihn abzuwimmeln, ohne die Höflichkeit zu verletzen. Da auch der Ritter gern die Saline sehen wollte, wurde er von Reyner Stolzfuß kurzerhand aufgefordert, sich anzuschließen.

      »Der Mann ist ja wie der Teufel«, flüsterte Anselm, der sich mit Martin Grüneberg ein paar Pferdelängen hatte zurückfallen lassen. Gerade hatte er dazu angesetzt, dem Rostocker Weddeherrn den Verdacht des Spittlers auseinander zu setzen. »Man muss nur an ihn denken, dann erscheint er schon.«

      »Unser Ritter ist einfach unverwüstlich«, stellte Grüneberg fest. »Aber Ihr wolltet etwas anderes sagen, Ehrwürdiger Vater.«

      »Ja.« Anselm berichtete von dem Einfall des Bruders Arzt, der im Bellum Iudaicum des Josephus Flavius einen Hinweis auf die Täter gefunden haben wollte.

      »Dann muss ein kluger, belesener Kopf hinter dem Anschlag stecken«, meinte Martin Grüneberg nachdenklich. »Schließlich ist die Geschichte des Judäischen Krieges kein Erbauungsbuch, das jeder kennen sollte. Und die beiden Ausführenden, die wir unter uns ja getrost die Sikarier nennen können, sie schienen mir eher grobschlächtig und bäurisch zu sein.«

      »Das mag sein. Aber Ihr sagt es selbst: Es waren nur die Ausführenden. Der Plan muss von einem anderen stammen.«

      Am Ende der Heiliggeiststraße wurde wieder die Rauchwolke sichtbar, die sich über der Saline erhob. Da der Wind aus Norden wehte, trieb der Qualm nach Süden aus der Stadt.

      »Das sieht ja wie die Hölle aus«, sagte Bruder Anselm.

      »Wir haben schließlich auch einen Teufel im Gefolge«, sagte Martin Grüneberg und lächelte unwillkürlich, obgleich ihm nicht danach zumute war.

      Vor dem Tor zur Sülte brach Maria Peters zusammen. Hinter Tor und Mauern, die das Salzbergwerk auch zur Stadt hin abschlossen, wurde der Stoff gewonnen, mit dem ihr Mann gehandelt hatte und reich geworden war. Maria Peters fürchtete nicht um den Verlust des Wohlstands, schließlich würde Sohn Piet das väterliche Geschäft fortführen. Doch alles, was mit dem Salz zu tun hatte, erinnerte an Lüdeke. Nachdem alle von den Pferden abgesessen waren, konnte Maria Peters keinen Schritt vorwärts setzen. Sie schien einer Ohnmacht nahe zu sein, also blieben ihr Sohn und die Schwiegertochter Geseke zurück, um sich um sie zu kümmern und sie notfalls zurück in das Haus Am Berge zu begleiten.

      Die übrige Gesellschaft machte sich auf den Weg durch das Tor. Eigentlich war es Fremden nicht gestattet, die Saline zu betreten, aber der Begleitung eines Bürgermeisters verweigerte die Wache den Zutritt nicht. Jeder fühlte sich nach dem Zusammenbruch der gebeutelten Frau beklommen, und man hatte wohl auch ein schlechtes Gewissen, weil man seiner Neugierde nachgab; allerdings wusste man Maria Peters in guten Händen.

      Nach dem Betreten der Sülte fielen sofort die riesigen Stapel von Holz ins Auge, das zum Betrieb der Siedepfannen benötigt wurde. Mittlerweile hatten die Salinenpächter alles Holz in der Umgebung Lüneburgs aufgekauft und verbraucht, so dass eine Heidelandschaft entstanden war. Der Brennstoff kam nun aus Mecklenburg, wo noch riesige Wälder zur Verfügung standen, aber auch an den Ufern des Stecknitzkanals wurde Holz geschlagen. Die Holzschiffer brachten es bis Lauenburg, wo es dann über Elbe und Ilmenau nach Lüneburg geflößt