Don Joseph Goewey

Das stressfreie Gehirn


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die ich ausstellte, und den Schulden, die ich machte. Ich fürchtete zu versagen in einer Situation, in der ich allem Anschein nach Erfolg hatte. Ich fürchtete mich angesichts der kleinen Stiche in meiner Brust, der geschwollenen Lymphknoten, die gelegentlich im Hals meiner Kinder auftauchten, wenn sie sich erkältet hatten, und angesichts des merkwürdigen Klopfens im Motor meines Wagens. Ich hatte Angst vor Zuneigung, intimen Momenten und dem unglücklichen Ausdruck in den Augen meiner Frau. Ich ging an die meisten Situationen mit einem Gefühl des Risikos heran, so als könne mich jemand durchschauen, mich anklagen und mich aus dem Weg räumen. Ein Freund von mir machte einen Witz und sagte, er habe manchmal, wenn er sich Bares aus einem Geldautomaten hole, die Befürchtung, aus dem Automaten könnte plötzlich ein Polizist heraustreten und ihn für das Verbrechen, einen ehrbaren Bürger zu imitieren, verhaften – und er sprach damit genau meine Ängste an. Ich lebte unter einer mir selbst auferlegten Tyrannei und war vor dieser auf der Flucht. Ich befand mich eigentlich ständig auf der Flucht, fühlte mich selten wirklich wohl, wirklich frei. Ich erfuhr das, was Rollo May ein „namenloses und formloses Unbehagen“ genannt hat.1

      Das Unbehagen verschlimmerte sich noch, als die Universität mir eine Bewährungsfrist setzte und mir noch drei Monate gab, meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Als der Stichtag näher kam, wurde aus meiner Angst blankes Entsetzen und mein Selbstvertrauen ging in den Keller, was wiederum mein Vermögen, noch die Kurve zu kriegen, beeinträchtigte.

      Sören Kierkegaard, der große Philosoph, schrieb:

       Kein Großinquisitor hat so entsetzliche Foltern in Bereitschaft wie die Angst; kein Spion weiß so geschickt den Verdächtigen gerade in dem Augenblick anzugehen, in dem er am schwächsten ist, oder weiß die Schlinge, in der er gefangen werden soll, so bestrickend zu legen, wie die Angst es weiß; und kein scharfsinniger Richter versteht den Angeklagten so zu examinieren wie die Angst, die ihn niemals loslässt, nicht bei der Zerstreuung, nicht im Lärm, nicht bei der Arbeit, nicht am Tage, nicht in der Nacht. 2

      An dem angekündigten Tag fiel dann das Fallbeil: Ich wurde entlassen. Neun Tage später wurde bei mir ein Gehirntumor diagnostiziert. Als sei das noch nicht genug, vertiefte das Ringen mit all diesen Schwierigkeiten auch noch die Risse in meiner Ehe, statt meine Frau und mich einander näherzubringen. Sosehr wir uns auch bemühten, wir vermochten den Abgrund, der sich zwischen uns aufgetan hatte, nicht mehr zu überbrücken. Ich glaube, ich habe mich nie in meinem Leben einsamer und verlorener gefühlt als damals. Meine Gemütsverfassung schwankte zwischen blankem Entsetzen und totaler Taubheit. Und ich begann, den Glauben an das Leben zu verlieren.

      Die gute Nachricht war, dass der Tumor gutartig war und nur langsam wuchs. Die schlechte Nachricht war seine Größe und seine Lokalisierung. Das Krebsgeschwür war ziemlich groß und übte Druck auf den fünften, siebten und achten Kranialnerv aus, was zu einer ungünstigen Prognose führte. Es hieß, ich könnte durch die nötige Operation die Hälfte meines Gehörs verlieren, mein Gleichgewichtsgefühl könnte leiden und meine linke Gesichtshälfte gelähmt werden. Ich war damals achtunddreißig Jahre alt und die medizinische Prognose war ein schwerer Schlag für mich. Wie sollte ich eine neue Karriere starten können, wenn ich am Stock zum Einstellungsgespräch gehumpelt kam und meine Qualifikation mit einem zur Hälfte erstarrten Gesicht anpries? Es erschien mir offensichtlich, dass das Leben, das ich bisher geführt hatte, zu Ende war und dass meine Familie in Zukunft in Armut würde leben müssen.

      Durch die Beziehungen, die sich an der Medizinischen Fakultät ergeben hatten, konnte ich den besten Gehirnchirurgen finden, auch wenn dieser nicht gleich verfügbar war. Aus medizinischer Sicht war das nicht schlimm, da der Tumor nur langsam wuchs. Der Aufschub war in der Tat eine Erleichterung, so ziemlich die einzige Erleichterung, die ich seit Monaten verspürt hatte. Ich hatte es nicht eilig, mich mit einer Gesichtslähmung oder einem torkelnden Gang anzufreunden. So seltsam es sich auch anhören mag, aber es war wirklich ein Segen für mich, auf die Operation warten zu müssen. Das ließ mir die Zeit, in meinem Leiden bis zum tiefsten Punkt meiner Verzweiflung vorzustoßen; ich erreichte ihn eine Woche vor meiner Operation. Es war ein kalter, grauer Tag. Ich war allein zu Hause und ging hinaus auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen und meinen Blick über die Hügel schweifen zu lassen, in der Hoffnung, meine Angst dadurch ein wenig lindern zu können. Doch meine Angst wuchs nur noch mehr als Reaktion auf die Schreckensbilder meiner Zukunft, die ich mir von Furcht getrieben ausmalte. Die Furcht unterspülte den brüchigen Grat der Sicherheit, auf dem ich balancierte, um noch irgendwie bei Verstand zu bleiben, und ich fiel in ein Loch, in das ich tiefer und tiefer versank, hinab in eine finstere Höhle in meinem Geist. Je tiefer ich fiel, desto dunkler wurde es. Je dunkler es wurde, desto mehr Angst bekam ich, bis ich mich schließlich in einem Zustand nackter Panik befand. Es war ein Albtraum. Ich hatte keine Ahnung, wie ich den psychischen Absturz hätte abfangen können, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich der Erfahrung völlig zu überlassen. Als ich das tat, vertiefte sich mein Entsetzen noch. Die Situation wurde unerträglich, und an irgendeinem Punkt begann mein Bewusstsein sich nach innen zurückzuziehen, bis zu einem Punkt, an dem ich völlig zu verschwinden schien.

      Dann erwachte mein Bewusstsein wieder zum Leben, wie ein Phönix, der sich aus der Asche erhebt. Mein Geist fühlte sich ausgeleert an, wie geläutert und seltsam geräumig, wie der blaue Himmel nach einem Unwetter. Alles war still und von einer ungewöhnlichen Weite. Die Stille wurde immer greifbarer und bekam etwas Lebendiges – wie das erste Frühlingserwachen. Die Stille umgab und durchdrang mich, und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte ich mich in Frieden. Ich entspannte mich völlig in diese Empfindung hinein, so wie wir uns in das Nachlassen von Schmerzen hinein entspannen. Während ich das tat, begann ich mich geliebt zu fühlen, ich weiß nicht, von wem. Vielleicht war es bloß so, dass ich mich selbst zum ersten Mal liebte; vielleicht war es auch die schlichte Erleichterung und Dankbarkeit, endlich Sicherheit erreicht zu haben.

      Ich schaute auf meine Hand, und die Zigarette, die ich zwischen den Fingern hielt, war erst zur Hälfte verglüht. Das war schwer zu begreifen, denn die Erfahrung, die ich soeben gemacht hatte, fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Als ich wieder einigermaßen bei mir war, machte ich einen Realitätscheck: Habe ich einen Gehirntumor? Die Antwort war: ja. Ist die Prognose immer noch dieselbe? Die Antwort war: ja. Bin ich dabei, mich unter die Arbeitslosen einzureihen? Die Antwort war: ja. Liegt meine Ehe auf Eis? Ja, ja, und wieder ja. Und trotzdem hatte ich noch das Gefühl, alles werde in Ordnung sein. Trotz der schwierigen Umstände, mit denen ich mich konfrontiert sah, fühlte ich mich innerlich in Frieden.

      Die Erfahrung hielt an, und die folgende Woche war pure Glückseligkeit. Ich dachte nicht viel, redete nicht viel, und ich machte mir keine Sorgen. Meine Angst war verschwunden. Der Leiter der Medizinischen Fakultät war so freundlich, das Anstellungsverhältnis bis nach meiner Operation aufrechtzuerhalten und mir danach sechs Wochen bezahlten Erholungsurlaub zuzugestehen. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, noch mal in mein Büro zurückzukehren, aber jetzt wollte ich einfach dort sein. Meine friedvolle Geisteshaltung warf ein positives und optimistisches Licht auf alles, und ich glaube, ich wollte sie einfach auf die Probe stellen. Der Dekan hatte die Medizinische Fakultät einst einen „gottverlassenen Ort“ genannt, und ich wollte herausfinden, ob meine neue Sichtweise dem Stress und der Belastung, die dieser Ort für mich