Don Joseph Goewey

Das stressfreie Gehirn


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Laufe seiner Arbeit entwickelte das Zentrum eines der bedeutendsten Modelle der psychiatrischen Betreuung in einer Gemeinschaft. Das war genau der Bereich, der mich interessierte, und es war aufregend, die Arbeit dieser Menschen zu beobachten. Ihr Modell war ebenso effektiv wie das der Anonymen Alkoholiker. Und die Gründe für diese Effektivität waren ähnliche wie bei den Anonymen Alkoholikern: Hier saßen Menschen in einem Kreis, die von praktischen Prinzipien geleitet wurden, mit Gleichheit als dem ersten Prinzip; und das führte zu einem Gefühl der gegenseitigen Verbundenheit, das wahrhaft heilsam sein kann.

      Etwa einen Monat lang verbrachte ich all meine verfügbare Zeit im Zentrum, um zu sehen, ob dies wirklich der Ort war, nach dem ich gesucht hatte. Ich kaufte und las viele der im dortigen Buchladen angebotenen Bücher, ich lernte Patsy Robinson und die gesamte Belegschaft kennen, und ich lernte so viel wie möglich über die angebotenen Programme. Es war in der Tat der Ort, nach dem ich gesucht hatte. Wie es bei so vielen anderen Menschen geschah, verliebte ich mich in diese Gemeinschaft. Schließlich wurde ich dafür rekrutiert, als Komoderator für die Hilfsgruppe für HIV-Infizierte zu fungieren. Aus dieser Gruppe ergaben sich viele Segnungen für mich; eine davon war eine Arbeitsstelle. Durch meinen Komoderator hörte ich, dass die Stelle des Geschäftsführers bei einer lokalen AIDS-Organisation frei geworden war. Ich bewarb mich und wurde eingestellt.

      Die AIDS-Epidemie war damals gerade auf ihrem Höhepunkt, und während der nächsten drei Jahre arbeitete ich mit einem Haufen von Heiligen, Außenseitern, Engeln, Gaunern und Helden, schwulen und heterosexuellen Männern und Frauen, Kindern, Prostituierten und Süchtigen. Die Belegschaft und die Freiwilligen, die in dieser Organisation arbeiteten, gehörten zu den wunderbarsten Menschen, denen ich je begegnet bin – und sie mussten es sein, denn sie hatten es mit verheerenden Umständen zu tun.

      Ein Bild hat sich mir besonders tief ins Gedächtnis eingebrannt: Es war ein großes Haus mit Mietwohnungen, in dem einer meiner Mitarbeiter lebte. Dieses Haus war einmal so etwas wie ein Hort für Schwule gewesen, die hier zusammenlebten, sich liebten und einander unterstützten. In den guten Tagen vor dem Auftreten von AIDS teilten sie ihre Freuden miteinander. Sie pflegten einander bei Erkältungen und Grippe, standen sich gegenseitig in emotionalen Krisen bei und packten bei schwerer körperlicher Arbeit mit an. Sie begingen Thanksgiving, Weihnachten, Geburtstage und Begräbnisse zusammen, eben alles, was es so zu feiern und zu betrauern gab. Sie freuten sich an der Gesellschaft der anderen und kümmerten sich umeinander. Kurz gesagt: Sie waren echte Nachbarn. Nachdem die Seuche zugeschlagen hatte, lebte kaum noch jemand in dem Gebäude. Es hatte für eine Weile etwas von einer Geisterstadt.

      Ich werde auch niemals die unglaublich kranken und ausgemergelten Körper in den Hospizen und Krankenhäusern vergessen. Ich hatte vorher nicht gewusst, dass Menschen derart krank werden und dermaßen leiden können. Aber ebenso unvergesslich ist für mich, welcher Geist der Menschlichkeit all dieses Leiden durchwehte. Er manifestierte sich in dem Lächeln, das über ein ausgezehrtes Gesicht huschte, und in der Unverwüstlichkeit von Pflegern, die wieder und wieder über Trauer und Entmutigung hinweggingen, um präsent und liebevoll zu sein und das zu tun, was als Nächstes zu tun war. Die Tränen und das Lachen der Menschen, die mit der Epidemie rangen, entsprangen einem Ort tief in ihrem Inneren, ebenso wie ihre Güte und ihr Mitgefühl. Und wer könnte die Menschen vergessen, die durch ihre Aktivitäten die Forschung vorantrieben, der es schließlich gelang, aus der tödlichen eine chronische Erkrankung zu machen? Manchmal denke ich, dass die Menschen, die gegen AIDS kämpfen, die Sanftmütigen sind, die die Erde erben werden. Sie lassen die emotionale und spirituelle Intelligenz erkennen, die meiner Meinung nach nötig sein wird, wenn wir den nächsten Schritt in der Evolution der menschlichen Kultur tun wollen.

      Drei Jahre später verließ ich die AIDS-Hilfsorganisation und wurde zum Geschäftsführer des Zentrums in den Hafenanlagen von Tiburon. Die Erfahrung dort war ebenfalls sehr belohnend. In den Selbsthilfegruppen, Workshops und Beratungsdiensten des Zentrums arbeite ich mit Hunderten von Menschen zusammen, die demonstrierten, dass es möglich ist, die eigene Erfahrung durch tief greifende Veränderung der Geisteshaltung zu beeinflussen, ganz gleich, wie schlimm die eigene Situation ist. Bei einigen ging der Wandel schneller vonstatten, andere brauchten länger. Aber aus den ganzen zwölf Jahren meiner Arbeit am Zentrum erinnere ich mich an keinen Fall, in dem ein Mensch nicht in seine Heimat gelangt wäre. Mit „Heimat“ meine ich hier die Erfahrung von Frieden – jene Erfahrung, die dort beginnt, wo die Angst aufhört, und die weiter wachsen kann bis zu einer Geistesverfassung, die es dem Menschen ermöglicht, jegliche widrigen Umstände zu transzendieren. Diese Menschen haben mir geholfen zu erkennen, dass es möglich ist, ohne Angst in dieser Welt zu leben – womit nicht gesagt sein soll, dass dies ein Leben ohne alle Ängste ist. Diese Menschen stellten sich ihren Ängsten Tag für Tag; sie begegneten ihnen mit einer Präsenz, die es ihnen ermöglichte, ihre Verluste und Probleme anzunehmen und sie schließlich zu transzendieren.

      Zwei Frauen, denen ich dort begegnet bin, sind für mich Paradebeispiele dafür, welche Transformation bei Menschen möglich ist. Wenn ich einmal das Gefühl habe, das Leben hätte mir schlechte Karten gegeben, brauche ich nur an diese Frauen zu denken, und sofort wird mir das Herz leichter, meine Wirbelsäule richtet sich auf und ich gehe erhobenen Hauptes daher.

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      Die erste Person war eine Klientin des Zentrums in Argentinien. Ihr Name ist Pilar. Pilar war ein Contergan-Baby. Da ihrer Mutter das Medikament während der Schwangerschaft verschrieben worden war, wurde sie ohne Arme und mit schweren Verkrüppelungen geboren. Misshandelt, vernachlässigt und beiseitegeschoben, fühlte sie sich während des größten Teils ihres Lebens als Opfer und machte ihren Eltern und der Ärzteschaft bittere Vorwürfe wegen ihres Unglücks. Als sie schließlich erwachsen war, musste sie sich allein einer Welt stellen, die Pilar als abstoßend empfand. Wenn irgendein Mensch mit Recht zornig auf das Leben sein darf, dann war es Pilar – und für lange Zeit war sie sehr zornig.

      Mithilfe des Zentrums begann sie, über ihr Schicksal und über den Aufruhr ihrer Gefühle hinauszuwachsen. Sie begann sich ihr Leben Moment für Moment wieder anzueignen, indem sie durch Versuch und Irrtum lernte, eine friedliche und vergebende Geisteshaltung zu entwickeln. Ganz allmählich befreite sie sich von der beschränkten und einschränkenden Existenz, die von ihrer Angst, ihrem Pessimismus und ihrem Zorn ständig erneuert worden waren. Was aufgrund ihrer beharrlichen Bemühungen schließlich hervortrat, war Pilar als eine heile Person – lebendig und frei, mit Würde, Intelligenz und der Kraft, Berge zu versetzen. Und sie versetzte tatsächlich Berge. Sie erfüllte sich einen Traum, dessen Erfüllung die meisten Menschen, die sie kannten, für unmöglich gehalten hatten. Sie wurde Künstlerin und malte mit den Füßen. Ihre Kunst gewann schließlich breite Anerkennung und gilt heute als einer der Nationalschätze Argentiniens.

      Ich bin stolzer Besitzer zweier ihrer Gemälde. Die Zeit, die ich mit Pilar verbracht habe, war kurz, aber inspirierend, auch wenn wir nur wenig miteinander redeten. Sie spricht Spanisch und ich beherrsche diese Sprache nicht, aber das spielte keine Rolle. Allein schon ihr Gesicht war ein Kunstwerk; es war von einer Geisteshaltung durchstrahlt, die mehr kommunizierte, als Worte zu sagen vermögen. „Was für eine Lektion in Demut ist es doch, einen solchen Menschen zu sehen“, schrieb Dr. Alberto Loizaga, ein Psychiater, der das Zentrum in Argentinien gegründet hat, „einen Menschen, der sich nicht als Opfer fühlt, sondern der eine leidenschaftliche Liebe zum Leben besitzt und dieser durch das Medium der Kunst Ausdruck verleiht.“3

      Die zweite Frau heißt Lubie. Als wir uns trafen, war sie vor dem Krieg in Bosnien auf der Flucht. Sie nahm an einem Workshop teil, den wir auf dem Höhepunkt dieses schrecklichen Krieges in Zagreb in Kroatien gaben. Im Gegensatz zu Pilar, die mehrere Monate brauchte, bis sie zu ihrem Durchbruch kam, dauerte das bei Lubie nur wenige Tage.

      Der Workshop war Teil eines vom Außenministerium der US-Regierung finanzierten Programms, das Kriegsflüchtlingen helfen sollte, mit dem posttraumatischen Stress als Folge der unsäglichen Brutalität, deren Zeuge sie geworden waren, zurechtzukommen. Lubie war nur eine von dreihundert Teilnehmern an diesem Workshop, aber sie fiel mir sofort auf. Ich weiß noch genau, wie sie den Raum betrat und einen Platz in der dritten Reihe gleich am Seitengang einnahm. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, so als trage sie Trauer.