sagte die Heimleiterin nachdenklich. »Schwester Regine muss bald zurück sein. Dann soll sie nach ihr sehen. Wenn sich ihr Zustand verschlechtert, muss ich Frau von Schoenecker anrufen.«
Doch Bärbels Zustand verschlechterte sich an diesem Abend nicht mehr. Sie war nur ungewöhnlich müde. Schwester Regine brachte sie noch vor dem Abendessen zu Bett und holte ihr aus der Küche einen Imbiss. Aber als sie damit zurückkam, schlief Bärbel bereits.
Nachdenklich fühlte die Kinderschwester den Puls des Mädchens. Doch er war normal. Auch Bärbels Stirn war nicht heiß. Mit dem Vorsatz, am nächsten Morgen gleich wieder nach ihr zu sehen, ließ Schwester Regine das Kind allein.
*
»Schwester Regine! Schwester Regine!«
Pünktchens Stimme überschlug sich fast. Aufgeregt lief sie den Gang entlang, gefolgt von Vicky.
Schwester Regine kam mit einem Tablett von der anderen Seite des Ganges. Erstaunt schüttelte sie den Kopf. »Warum schreit ihr denn so?«
Sofort wurden Pünktchen und Vicky ein wenig ruhiger. Dazu genügte schon die Gegenwart Schwester Regines.
»Bärbel kann nicht aufstehen«, berichtete Pünktchen.
Vicky fügte hinzu. »Sie hat einen heißen Kopf. Wahrscheinlich hat sie Fieber.«
Also doch, dachte Schwester Regine, und war nun ebenfalls alarmiert. Schnell stellte sie das Tablett ab und eilte zu Bärbels Zimmer.
Mit hochroten Wangen lag die Kleine im Bett. Es war ein seltsamer Kontrast zu der Blässe der vorangegangenen Tage. Als sie die Schwester hereinkommen sah, wollte sie etwas sagen, doch ihre trockenen Lippen brachten keinen Laut hervor.
Schwester Regine erkannte auf den ersten Blick, dass Bärbel sehr hohes Fieber hatte. Trotzdem redete sie beruhigend auf das Kind ein. »Was machst du denn für Sachen, Bärbelchen?« Und ohne dass die Kleine etwas davon merkte, schob sie ihr das Fieberthermometer in die Armhöhle. »Komm, rutsch ein klein wenig tiefer in die Kissen, Bärbel, du liegst ja so schlecht.«
Doch Bärbel schüttelte nur in stummem Schmerz den Kopf. »Ich kann nicht«, hauchte sie. »Mir tut mein Hals so weh, aber hinten.«
Alarmiert horchte Schwester Regine auf Es war ihr schon aufgefallen, dass das Mädchen seltsam verkrampft und steif dalag.
Als sie ihr dann auch noch das Thermometer herauszog und die Messung vierzig Grad anzeigte, sprang die Schwester beängstigt auf. »Ich bin sofort wieder bei dir, Bärbelchen. Bleib solang ruhig liegen.« Sie trat auf den Gang hinaus, wo sich inzwischen noch ein paar andere Kinder zu Vicky und Pünktchen gesellt hatten. Alle Gesichter zeigten Besorgnis.
»Lauft schnell zu Tante Ma und bittet sie, Frau Dr. Frey anzurufen«, bat Schwester Regine. In ihrer Stimme lag ein so drängender, besorgter Ton, dass die Kinder augenblicklich gehorchten, ohne eine Frage zu stellen.
Schwester Regine trat wieder zu Bärbel ins Zimmer. Als Heidi mit hineinschlüpfen wollte, wurde sie von der Schwester vorsichtig, aber bestimmt wieder hinausgeschoben.
Diese Geste zeigte den Kindern, dass Schwester Regine etwas Ernsteres vermutete.
»Ist Bärbel arg krank?«, fragte Heidi mit ganz kleiner Stimme und schaute zu Vicky auf.
Doch Vicky hatte die Frage gar nicht gehört, denn sie verfolgte mit bangen Blicken Pünktchen, die über den Gang flitzte, um Tante Ma zu benachrichtigen.
Instinktiv wurde da die kleine Heidi von der Angst erfasst, die in der Luft lag. Sie begann zu weinen.
In diesem Moment trat Schwester Regine auf den Gang hinaus. »Aber, Heidilein, warum weinst du denn?«, fragte sie.
»Weil die arme Bärbel krank ist«, schluchzte Heidi auf.
»Deshalb brauchst du doch nicht zu weinen«, tröstete Schwester Regine und blickte in die Runde. »Bärbel hat sich wahrscheinlich nur erkältet und wird in ein paar Tagen wieder mit euch spielen.«
Jeder glaubte ihren Worten, sodass die Kinder sich beruhigt zerstreuten. Nur Pünktchen und Heidi blieben da. Auch Vicky glaubte nicht so ganz an die harmlose Erkältung. Wenn es so war, warum sollte dann sofort Frau Dr. Frey kommen?
Doch schließlich nahm Vicky Pünktchen beim Arm und zog sie mit sich fort.
Nur Heidi wollte unbedingt Bärbel sehen, aber das konnte Schwester Regine leider nicht erlauben. Im Moment war sie die einzige, die wusste, dass Bärbel nicht nur eine Erkältung hatte. Sie vermutete eine weit schlimmere Krankheit, aber die Diagnose würde Frau Dr. Frey stellen. Hoffentlich war ihre Angst grundlos.
»Geh mit den anderen spielen, Heidi. Bärbel schläft jetzt und braucht sehr viel Ruhe.«
Da trottete auch die Kleine endlich davon, doch ihr Blick wanderte immer wieder zurück zu der verschlossenen Zimmertür, hinter der Bärbel lag.
»Komm, Heidi, wir gehen zu den Ponyweiden, um Nick dort zu treffen!« Vicky streckte der Kleinen ihre Hand hin.
Schwester Regine kam gerade dazu, als Frau Rennert zum zweiten Mal Frau Dr. Frey anrief. Beim ersten Anruf hatte sie Anja Frey nicht erreicht. Schwester Regine übernahm den Hörer und schilderte der Ärztin die Anzeichen von Bärbels Krankheit. Wie sie nicht anders erwartet hatte, reagierte Dr. Anja Frey alarmiert. »Ich komme sofort nach Sophienlust«, versprach sie und hängte ein.
Zwanzig Minuten später betrat die Ärztin das Herrenhaus von Sophienlust. Da die Kinder alle zu den Ponyweiden gegangen waren, war keines im Haus, als sie mit äußerst besorgtem Ausdruck durch die Gänge von Sophienlust hastete. Schwester Regine folgte ihr auf dem Fuß.
»Soll ich Frau von Schoenecker benachrichtigen?«, hatte Frau Rennert gefragt.
Doch Dr. Frey hatte den Kopf geschüttelt. »Wir wollen sie nicht unnötig ängstigen. Wenn ich mir Bärbel angesehen habe, ist immer noch Zeit, sie zu informieren.« Dabei dachte sie, hoffentlich trifft das, was ich nach Schwester Regines Schilderung vermute, nicht zu.
Dann waren sie bei Bärbels Zimmer angelangt und traten ein. Mit hochrotem Kopf und schweratmend lag das Kind im Bett. Auch Dr. Anja Frey fiel augenblicklich die seltsame steife Lage auf. Sie blickte Schwester Regine an, ohne ein Wort zu sagen. Aber ihr Blick war Bestätigung genug.
Sie legte die Arzttasche beiseite und setzte sich zu dem Mädchen ans Bett. Erst in diesem Moment schlug Bärbel die Augen auf.
Jetzt war es noch nicht die Ärztin, sondern einfach die Frau, beherrscht von warmen, mütterlichen Gefühlen, die beruhigend auf das Kind einredete.
»Du musst nicht traurig sein, Bärbel«, sagte Anja Frey. »Momentan hast du große Schmerzen, aber das wird bald wieder vorbei sein.« Sie legte ihre kühle Hand auf die heiße Stirn der Kleinen und setzte dann ein Glas mit echtem Himbeersaft, das Schwester Regine gebracht hatte, an die ausgetrockneten Lippen des Kindes.
Erst danach bgann sie die Untersuchung. Sie untersuchte gründlich. Fast eine Stunde lang hielt sie sich allein in Bärbels Zimmer auf. In dieser Zeit erbrach sich das Mädchen zweimal. Dr. Anja Frey wollte es im allerersten Moment des Begreifens nicht wahrhaben und untersuchte das Kind sofort noch einmal genauso gründlich. Doch die Diagnose blieb die gleiche.
Die Ärztin spürte, wie ein unheimliches Zittern durch ihren Körper lief. Es war das Erkennen einer schrecklichen Wahrheit. Das Erbrechen, die Nackensteife und das hohe Fieber deuteten auf eine der gefährlichsten Krankheiten hin, eine Krankheit, die gefährlich und ansteckend war. Es war Hirnhautentzündung.
Einen Moment schloss Anja Frey erschöpft die Augen. Aber es war keine körperliche Erschöpfung, sondern die Erkenntnis der gefährlichen Situation, in der sich dieses arme Kind befand. Und natürlich ganz Sophienlust.
Sie flößte dem Kind ein schmerzlinderndes Mittel ein, bevor sie das Zimmer verließ. Schwester Regine wartete auf einem Stuhl im Korridor. Sie erschrak, als sie Dr. Freys Gesichtsausdruck sah. »Oh, mein Gott«, murmelte sie unwillkürlich. Aber sie stellte keine Frage.
»Bitte,