Fuß des Berges zu kommen«, schlug er vor.
Corinna nickte sofort. Jochen hatte recht. Sie würden sonst den Aufstieg an einem Tag nicht schaffen. »Aber wir haben unsere Ausrüstung nicht dabei«, gab sie zu bedenken.
»Daran habe ich schon gedacht.« Er schaute auf den kleinen Rucksack, in dem er nur die notwendigsten Kleinigkeiten mit sich führte. »Wenn wir sofort aufbrechen, können wir den Weg ins Tal zu unserem Wagen und hinauf zum direkten Beginn des Felsens noch heute schaffen.«
Corinna musste zugeben, dass sein Vorschlag sehr gut überlegt war. Würden sie im Tal übernachten, würden sie den ganzen Aufstieg an einem Tag wohl kaum schaffen. Wenn sie aber in einer der Hütten, dort, wo die Almwiesen endeten und der nackte Fels begann, nächtigen, hatten sie die Chance, an einem Tag bis zum Gipfel zu kommen. »Dein Vorschlag ist gut«, lobte sie anerkennend.
»Ich kenne eine Hütte, die für unser Vorhaben sehr günstig liegt. Sie ist von hier aus nicht zu sehen, weil sie von einem Felsvorsprung verborgen wird. Aber der Aufstieg ist so bequem, dass wir ihn leicht heute noch schaffen können.«
»Dann lass uns aufbrechen!« Mit Elan sprang Corinna auf. Sie lief schon voraus, während Jochen bei der Wirtin zahlte.
Wie sicher und behend ihre Füße die richtigen Tritte finden, dachte er, als er Corinna folgte. Es ist geradezu ein Entzücken, sie zu beobachten. Doch ein klein wenig schmerzte ihn ihre plötzliche Fröhlichkeit auch. Denn sie galt nicht ihm, sondern dem Verstorbenen, dessen Todesstelle sie morgen sehen würde. Mit einem kleinen, wehmütigen Seufzer folgte er ihr.
Die beiden legten den Weg ins Tal in einer kürzeren Zeit als vorgesehen zurück. Mit zwei schweren Rucksäcken beladen stiegen sie dann wieder auf. Die Sonne ging bereits unter, als sie die von Jochen bezeichnete Hütte erreichten.
»Das wäre geschafft«, seufzte Corinna erleichtert auf und ließ den Rucksack von ihrem Rücken gleiten.
Jochen nahm beide Gepäckstücke und trug sie in die Hütte. Sie war noch leer. Manchmal kam es vor, dass sich bereits andere Bergsteiger einquartiert hatten. Dann musste man sich gemeinsam arrangieren, so gut es eben ging. Doch hier waren sie allein.
Als Jochen wieder aus der Hütte trat, sah er Corinna unbeweglich dastehen, versunken in den Anblick der untergehenden Sonne. »Ein überwältigendes Bild«, flüsterte sie, als er neben sie trat.
Die Sonne war bereits hinter den hohen Felszacken verschwunden. Ihr Licht aber war noch vorhanden und ließ die schroffen Felsen in einem rotgoldenen Schein erglühen. Es war eine verzauberte Stimmung.
Ohne sich dessen bewusst zu werden, legte Jochen seinen Arm um Corinnas Schulter. Und sie ließ es geschehen.
Als das Leuchten um die Bergkuppe schwächer wurde, gingen sie in die Hütte. Corinna begann das Abendessen vorzubereiten. »Gemütlich ist es hier«, meinte sie, während sie die mitgebrachten Nahrungsmittel auspackte.
Jochen stimmte ihr zu. Nicht jede Hütte ist so sauber und so hübsch eingerichtet.
Obwohl die Einrichtung der Hütte nur aus rohem Holz gezimmert war, strahlte sie doch eine Behaglichkeit aus, die vielen eleganten und modernen Wohnungen fehlte. Die Decke des einzigen großen Raumes war niedrig und bestand ebenfalls aus Balken. Während der vordere Teil als Küche und Wohnzimmer galt, waren in der hinteren Nische des Raumes zwei Stockbetten aufgestellt. Es war das Schema, nach dem alle Berghütten eingerichtet waren.
Schon unzählige Male hatte Corinna in solchen Berghütten übernachtet. Aber das war meistens mit ihrem Mann gewesen. Mit Jochen geschah es zum ersten Mal. Aber keinen Moment lang hätte sie das komisch gefunden. Das war einfach unter Bergsteigern so üblich.
Als das Wasser kochte, legte Corinna eine karierte Leinendecke auf den derben Tisch und holte aus einem kleinen Wandschrank Geschirr und Bestecke. Diese Dinge befanden sich in jeder Hütte zum allgemeinen Gebrauch.
Bald stand eine Platte mit belegten Broten auf dem Tisch. Corinna goß nun frischen Tee auf, während Jochen aus seinem Rucksack eine Flasche Rum holte, von dem in jede Tasse ein paar Spritzer zur Geschmacksaufbesserung kamen.
»Du bist eine großartige Hausfrau«, lobte er sie, während er sich die Brote schmecken ließ.
Corinna musste lachen. »Um ein paar belegte Brote herrichten zu können, braucht man wirklich kein hausfrauliches Können.«
»Sag das nicht«, wehrte er ab. »Du hättest ja auch so wichtige Dinge wie Brot oder Butter im Tal vergessen können. Und der Tee schmeckt großartig.«
»Dafür bin nicht ich verantwortlich, sondern dein Rum«, neckte sie ihn. »Du hast nämlich in die zweite Tasse die doppelte Menge hineingetan.«
»Wirklich?«, tat er erstaunt. »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Schwindler! Du hast es absichtlich getan.«
Er ging auf ihren ausgelassenen Ton ein. »Wenn du mich ärgerst, werde ich mich nach dem Essen auf die faule Bärenhaut legen und dir nicht beim Abspülen helfen«, drohte er.
»Das möchte ich mir auch verbitten, dass du mir hilfst. Du würdest ohnehin mehr zerschlagen als abtrocknen.« Sie stand auf und räumte mit ein paar raschen Handgriffen den Tisch ab.
Um sie zu necken, streckte sich Jochen demonstrativ auf der langen Holzbank aus und zündete sich seine Pfeife an. Dann entkorkte er eine Flasche des in dieser Gegend häufig getrunkenen, herben Südtiroler Landweines. Als er dann aufstand, um Corinna wenigstens beim Abtrocknen oder Einräumen zu helfen, war sie bereits fertig. »Du bist aber wirklich flink wie ein Wiesel«, staunte er ehrlich. »Jetzt hast du dir redlich ein Gläschen Wein verdient.« Er holte zwei Tonbecher aus dem Schrank und schenkte ein. Dann stießen sie miteinander an.
Als es draußen allmählich Nacht wurde, zündete Jochen die Petroleumlampe an. Denn elektrisches Licht gab es hier nicht. Der schwache Schein der Lampe zauberte eine heimelige Stimmung in den niedrigen Raum.
Da erhob sich Corinna. »Ich möchte in das nächtliche Tal hinunterblicken«, sagte sie und trat vor die Tür.
Jochen folgte ihr. Tief unten im Tal blinkten die Lichter des kleinen Dörfchens wie Glühwürmchen. Und auf den gegenüberliegenden Berghängen blitzte ab und zu das Licht eines Almgasthofes oder einer Hütte auf.
»Ist das nicht eine zauberhafte Stimmung?« Corinna blickte mit leuchtenden Augen zu Jochen empor.
Er nickte begeistert. Selten hatte er Corinna in einer so heiteren und gelösten Stimmung gesehen. Als sie ein wenig fröstelte, zog er seinen Janker aus und legte ihn ihr um die Schultern. Dabei blieb sein Arm auf ihrer Schulter ruhen. Auch zog er sie noch ein wenig an sich, um sie besser vor dem kühlen Nachtwind zu schützen.
Corinna wehrte sich nicht dagegen. Sie ließ es geschehen und lehnte sich vertrauensvoll wie ein kleines Mädchen an seine Brust.
Jochen spürte, wie sein Herz schneller schlug. Da neigte er seinen Kopf und hauchte einen raschen Kuss in ihr Haar. Sie rührte sich nicht. Hatte sie es bemerkt? Doch als sie sich plötzlich umdrehte und ihm in die Augen blickte, wusste er, dass sie seine Liebkosung gespürt haben musste. Aber sie tadelte ihn nicht. Es schien ihm sogar, als leuchte ihm aus ihren Augen eine wortlose Zustimmung entgegen. Doch die Beleuchtung war zu ungewiss.
Corinna wandte sich nun ab und ging zurück in die Hütte. Jochen folgte ihr ein wenig benommen. Immer, wenn er ihr so nahe war wie eben, stieg ein geradezu unsinniges Verlangen nach ihrer Liebe und ihren Zärtlichkeiten in ihm auf.
Sie saß bereits wieder am Tisch und trank den letzten Schluck Wein aus dem kleinen Tonbecher. Ihr Körper schien entspannt, ihr Mund lächelte ein wenig.
Als Jochen die Flasche zur Hand nahm, um ihren Becher frisch zu füllen, bemerkte er, dass seine Hand zitterte. Auch Corinna sah es. Als er die Weinflasche absetzte, legte sie ihm sekundenlang ihre schlanken Finger auf die Hand. Doch Jochen ergriff ihre Finger und hielt sie fest.
»Wenn du meine Hand festhältst, kann ich nicht trinken«, sagte sie schmunzelnd und entzog ihm ihre Finger. Dann hob sie