Schwester Regine nahm die Anordnung nickend zur Kenntnis. Dann blickte sie der Ärztin in die Augen. Anja Frey erwiderte diesen Blick sekundenlang. Dann öffnete sie den Mund und sagte wie unter einer Zentnerlast: »Das Kind hat Hirnhautentzündung.«
Sie sah das Erschrecken und auch die Angst auf dem Gesicht der Kinderschwester und drückte sie behutsam zurück auf den Stuhl, auf dem sie eben gesessen hatte. »Ich informiere Frau von Schoenecker selbst. Geben Sie Acht, dass niemand das Zimmer des Kindes betritt.«
Schwester Regine nickte nur. Sie war nicht fähig, einen Ton hervorzubringen. Sie presste ihre Fingernägel in das Fleisch des Handballens, dass er dort dunkelblaue Male hinterließ.
Als Anja Frey die große Halle von Sophienlust betrat, hörte sie vor dem Haus einen Wagen vorfahren. Gleichzeitig trat Frau Rennert ein und berichtete ahnungslos: »Frau von Schoenecker ist soeben gekommen.« Erst dann schaute sie die junge Ärztin genauer an und begriff, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Doch genau wie Schwester Regine wagte sie nicht zu fragen.
»Ich möchte, dass Sie bei dem Gespräch, das ich mit Frau von Schoenecker nun führen werde, anwesend sind«, sagte Frau Dr. Frey zu Frau Rennert.
Die ältere Frau nickte.
Dann betrat Denise ahnungslos die Halle. Doch schon der erste Blick auf die Ärztin sagte ihr, dass etwas passiert sein musste. Ohne eine Frage zu stellen, begrüßte sie Dr. Anja Frey und bat sie sowie Frau Rennert in ihr Büro.
Erst hier, hinter geschlossenen Türen, begann die Ärztin zu sprechen. Sie schilderte Bärbels Zustand und gab erst am Schluss ihrer Beschreibung die furchtbare Diagnose preis.
Dumpfes Schweigen folgte ihrer Erklärung. Denise, die das ganze tragische Ausmaß dieses einen Wortes begriff, hatte sekundenlang das Gefühl, ersticken zu müssen. Sie presste die Hand auf die Brust und holte tief Luft. »Ich habe zwar nur eine laienhafte Kenntnis von diesen Dingen«, wandte sie sich an Dr. Frey, »aber meines Wissens ist Hirnhautentzündung nicht nur eine sehr gefährliche, sondern auch eine äußerst ansteckende Krankheit?«
Dr. Anja Frey nickte sehr ernst. »Hirnhautentzündung ist mit Lebensgefahr verbunden und verbreitet sich sehr schnell. Es ist eine Infektionskrankheit.«
Wie ein drohendes Schwert schwebten diese Worte im Raum. Sekundenlang war keiner der drei Menschen eines Wortes fähig. »Welche Maßnahmen werden Sie ergreifen?«, wandte sich Denise schließlich an die Ärztin, womit sie gleichzeitig zu verstehen gab, dass sie die Situation als eine Art Ausnahmezustand betrachtete und Dr. Frey das Kommando übertrug.
Die Ärztin akzeptierte das dankbar. Es war dringend notwendig, dass sie sofort Anweisungen erteilte, um das Verbreiten der Krankheit zu verhindern. »Bärbel muss sofort isoliert werden.«
Diese Maßnahme hatte Denise erwartet. Doch dazu gehörte noch eine andere Entscheidung. Die isolierte Kranke musste gepflegt werden.
Aber auch hier hatte Frau Dr. Frey bereits einen Entschluss gefasst. »Ich werde mich von meiner Familie trennen und in Sophienlust bleiben, um Bärbel zu behandeln und zu pflegen«, sagte sie mit ruhiger Stimme.
Die Beherrschtheit, mit der sie ihre Anweisungen gab, sollte über die Tragweite dieses schweren Entschlusses hinwegtäuschen. Doch Denise ließ sich nicht von Anja Freys äußerer Ruhe täuschen. Sie wusste, was es für die junge Ärztin bedeuten musste, sich von ihrem Ehemann, den sie gerade erst geheiratet hatte, und von Felicitas zu trennen. Ganz abgesehen davon, dass sie auch ihre Praxis, die sie mit ihrem Mann gemeinsam führte, für die Zeit ihres Aufenthaltes in Sophienlust ihm allein überlassen musste.
»Ich nehme an, Sie haben sich diesen Entschluss gründlich überlegt, Frau Dr. Frey«, sagte Denise behutsam. Sie wollte nicht, dass sich die junge Ärztin zu viel zumutete.
Anja Frey verstand die Mahnung. Sie erwiderte schlicht: »Der Fall ist zu ernst und zu gefährlich, als dass ich die Pflege einem anderen überlassen könnte. Meine Familie wird verstehen, dass ich mich in diesem Fall für meine ärztliche Pflicht entscheiden muss. Sie wissen ja, dass eine alte Tante von mir, Elise Karsten, bei uns im Haus lebt. Sie wird die Führung des Haushalts für mich übernehmen. In der Praxis muss mich mein Mann vertreten.«
Denise nickte nur. Der Entschluss der jungen Ärztin war bewundernswert. Da gab es nichts mehr hinzuzufügen.
Um ganz sicherzugehen, dass Bärbel mit niemandem mehr in Berührung kam, sprachen sie nun alle technischen Einzelheiten der Isolierung durch. Jede Maßnahme, die sie treffen mussten, wurde gründlich geprüft.
Fast zwei Stunden lang wurden hinter geschlossenen Türen alle notwendigen Maßnahmen besprochen. Denise hatte zwei Zimmer im Erdgeschoß ausgewählt, in denen sich Frau Dr. Frey für die Dauer der Isolation mit der Kranken aufhalten sollte. Ein großer Raum sollte ihr als Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer dienen, ein Raum als Krankenzimmer für Bärbel. Dann gab es noch einen winzigen Nebenraum, der als Medikamenten- und Behandlungsraum geeignet erschien.
Nachdem diese Einzelheiten feststanden, erhob sich Frau Rennert. »Wenn es Ihnen recht ist, kümmere ich mich jetzt darum, dass die Zimmer hergerichtet werden«, wandte sie sich an Denise und Anja gleichzeitig.
Beide nickten.
Dann ging Frau Rennert, um alles Nötige zu veranlassen.
Denise und Anja blieben allein zurück. »Natürlich wird es sich nicht vermeiden lassen, dass Bärbels Krankheit auf Sophienlust und Schoeneich bekannt wird«, meinte Denise.
»Das wird sich kaum vermeiden lassen«, bestätigte Anja. »Wir können nur versuchen, den Namen der Krankheit vor den jüngeren Kindern zu verbergen. Doch die Isolation allein zeigt ja schon deutlich genug den Grad der Gefährdung.«
Damit waren sie bei der Frage angelangt, die sie beide am meisten ängstigte. Die Ansteckungsgefahr.
»Es ist also ohne weiteres möglich, dass Bärbel in den zwei Tagen bereits andere Kinder angesteckt hat?«, erkundigte sich Denise und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Anja konnte nicht anders, als es bestätigen. »Es ist sogar wahrscheinlich, dass Bärbel die Kinder, mit denen sie in näheren Kontakt gekommen ist, angesteckt hat. Aber es kann einige Tage dauern, bis die Krankheit bei den angesteckten Kindern ausbricht.« Die Ärztin wusste, wie grausam die Wahrheit klang. Doch sie musste Denise von Schoenecker darüber informieren.
Denise spürte, wie die Last der Verantwortung ihre Brust zu sprengen drohte. Aber es war ein Kampf, den sie alle durchstehen mussten. »Leider ist Bärbel mit fast allen Kindern in Berührung gekommen«, sagte sie leise und blickte Dr. Frey an. »Sie wissen ja, wie das ist, wenn Kinder spielen.«
Anja nickte. »Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass Bärbel alle Kinder angesteckt hat. Diesbezüglich glaube ich Sie beruhigen zu können. Meist sind es ein oder zwei Kinder, die besonders anfällig sind. Und wenn wir sehr großes Glück haben, hat Bärbel niemanden angesteckt.«
Glück, dachte Denise, das ist es, worum wir jetzt beten müssen. »Ab wann wollen Sie sich selbst isolieren?«, erkundigte sie sich.
»Noch heute«, erklärte Anja. »Ich muss nur noch mit meinem Mann alles Notwendige besprechen und Verbindung zu den Ärzten des Maibacher Krankenhauses aufnehmen. Ich werde ihre Ratschäge benötigen.«
Damit hatte Denise gerechnet. Sie erklärte sich auch bereit, jeden Botengang und jede Besorgung, die Anjas Mann zu viel wurden, zu übernehmen.
Dann verließ Anja Sophienlust. Sie fuhr nach Hause, um sich von ihrem Mann und ihrem Töchterchen zu verabschieden. Sie wusste, dass es ihr nicht leichtfallen würde, doch ihr Entschluss stand fest.
In der Zwischenzeit überwachte Denise persönlich Bärbels Umlegung in die kleine Isolierstation im Erdgeschoss. Die Nachricht, dass Bärbel schwer krank war und isoliert werden musste, verbreitete sich mit Windeseile. Noch vor dem Mittagessen wussten es sämtliche Kinder und ganz Schoeneich.
Doch zu diesem Zeitpunkt lag das kranke Kind bereits allein in dem großen Zimmer im Erdgeschoss. Schwester Regine