Georg Markus

"Wie war es wirklich?"


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war ein Malheur mit den beiden, die haben sich nie gut verstanden. Die Sache eskalierte, als unsere Tochter Gretl nach Buenos Aires ging, einen Argentinier heiratete und dort ein Kind adoptierte. Meine Frau hat diesen Buben nicht als Familienmitglied akzeptiert, weil sie befürchtete, dass durch ihn unser Vermögen, wie sie das ausdrückte, in fremde Hände gelangen würde.«

      »Sie hat das über Ihren Tod hinaus erfolgreich verhindert«, klärte ich Hans Moser auf, »denn Ihre Frau hat Ihre Tochter enterbt. Es gab Prozesse, die sich über Jahrzehnte hinzogen, und schließlich ging der Großteil des Geldes an verschiedene karitative Institutionen. Gretl hat nichts von alldem gesehen, was Sie durch Ihre Filme verdient haben.«

      »Schrecklich, das arme Kind«, erklärte der Dienstmann und zeigte, dass er auch das dramatische Fach beherrschte. Er stand auf, setzte zu einer umständlichen Drehung an und machte Anstalten, sich zu verabschieden. »So, Herr Chef, jetzt muss i weiter, das G’schäft ruft, gleich kommt der Elferzug aus Villach an, da muss i wieder die Koffer …«

      »Moment«, rief meine Frau, zumal wir den nächsten Zug nach Venedig erreichen mussten. Und da kein anderer Dienstmann zur Stelle war, baten wir Herrn Moser, sich unseres Gepäcks anzunehmen. Während er dies mehrmals versuchte, erkannten wir die Undurchführbarkeit des Unterfangens: »Der Mann ist zu schwach«, flüsterte meine Frau.

      »Was will sie denn, was hat sie denn?«, fragte der Dienstmann.

      »Meine Frau meint, dass wir auf diese Weise auch den nächsten Zug versäumen werden.«

      »Aber was, lächerlich«, nuschelte er in sich hinein, »kommen S’ nur, wir reißen den Koffer auf!«

      »Wie bitte?«

      »Wir reißen ihn empor!«

      Ich half beim Schultern des Koffers, doch auch dieser Versuch misslang. »Eh hopp«, keuchte der Dienstmann mit letzter Kraft, »abiagn, abiagn, lass nach, umikanten. Sowas Bledes hab i no net g’sehn. Mei Liaba, uje, uje, fangen S’ ihn.«

      Er hatte es zu spät gesagt, weshalb der Koffer einmal mehr krachend zu Boden fiel. Diesmal platzte er an allen Ecken, und unsere Wäsche lag verstreut am Bahnsteig. Während meine Frau einer Ohnmacht nahe war, klagte der Dienstmann nur: »Naja, die Schlösser san ja aa nix wert.«

      Aus dem Wochenende in Venedig war nichts geworden. Aber die Erzählungen des Dienstmannes hatten uns für alles entschädigt.

      »EIN KRIEGSBEIL BEENDET MAN NICHT«

      Streitgespräch mit Karl Kraus

      Karl Kraus * 28.4.1874 Gitschin/Böhmen † 12.6.1936 Wien. Schriftsteller, Journalist, Satiriker, Vortragender, Kulturkritiker. Sohn eines Fabrikanten, übersiedelte im Alter von drei Jahren nach Wien. Kämpfte in der von ihm in den Jahren 1899 bis 1936 herausgegebenen Zeitschrift »Die Fackel« für die Reinheit der Sprache und gegen die Presse seiner Zeit an. In seinem dramatischen Hauptwerk »Die letzten Tage der Menschheit« (1918/19) beschreibt er die Apokalypse des Ersten Weltkriegs. Wiederentdecker Nestroys.

      Ich saß in der Redaktion und dachte über den ersten Satz des nächsten Kapitels nach. Er fiel mir wie immer nicht ein. Als nach einer mir endlos erscheinenden Zeit endlich der rettende Gedanke kam, tippte ich ihn glückselig in den Computer: »Es war ein strahlender Sommertag, der förmlich danach schrie …«

      »Ein Sommertag schreit nicht«, wurde mein eben einsetzender Schreibfluss durch einen fremden Herrn unterbrochen, der ohne vorherige Anmeldung das Zimmer betreten hatte.

      »Im übertragenen Sinn kann auch ein Sommertag schreien«, erwiderte ich ungehalten. »Und überhaupt: Wer sind Sie eigentlich?«

      »Ich bin Ihr sprachliches Gewissen«, sagte der unscheinbar aussehende Mann mit randloser Brille. »Und ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich einen Kollegen von Ihnen schon wegen eines fehlenden Beistriches vor Gericht zitierte.«

      »Dann können Sie nur Karl Kraus sein.«

      »Ja, und Sie sind Journalist und somit Angehöriger eines Berufsstandes, der mir in jeder Faser meines Herzens verhasst ist.«

      »Dabei gehörten Sie diesem Berufsstand selbst an, Herr Kraus. Umso weniger verstehe ich, dass Sie ständig über uns herziehen, uns als Journaille, Köter und Pressmafia beschimpfen.«

      »Es gibt genügend Gründe dafür, nicht nur grammatikalische. Die Journaille, von der ich spreche, ist korrupt und wird bloß für das nicht bezahlt, was zwischen den Zeilen steht. Zu meiner Zeit jedenfalls habt Ihr Tintenstrolche die Macht des Wortes zu eurem eigenen Vorteil missbraucht.«

      »Könnten Sie ein Beispiel nennen?«

      »Gerne. Wenn man in den Jahren 1914 bis ’18 in führenden Tageszeitungen lesen konnte, dass an der Front ›bis aufs Messer‹ gekämpft würde, dann war das eine kriminelle Verfälschung, denn in Wahrheit wurde bereits Gas eingesetzt. Die Profiteure solcher Verharmlosung waren die Kriegshetzer und Waffenschieber.«

      »Mich persönlich hat noch nie jemand zu bestechen versucht«, bedauerte ich aufrichtig. »Das liegt wohl daran, dass wir in ganz anderen Zeiten leben, Herr Kraus. Wäre es nicht richtig, das Kriegsbeil zu beenden?«

      »Ein Kriegsbeil beendet man nicht, man begräbt es«, wies mich der Sprachreiniger auf einen peinlichen Lapsus Linguae hin, der in seinen Augen zur Verhängung der Todesstrafe gereicht hätte. »Für mich«, sagte er dann noch, »waren derartige Aphasien der Anlass, im Jahre 1899 Die Fackel als Kampforgan gegen die Verschluderung der deutschen Sprache zu gründen.«

      »Ihre polemischen Attacken richteten sich aber nicht nur gegen sprachliche Fehlleistungen«, konterte ich.

      »Ja, ich habe immer alles beim Namen genannt, und ich bin stolz darauf«, erklärte Karl Kraus. »Ich bezeichnete die alte Monarchie als ›Irrenhaus Österreich‹, habe den Weltkrieg und seine blutrünstigen Initiatoren schon verurteilt, als andere ihn noch mit dem Ruf ›Serbien muss sterbien‹ bejubelten. In der ersten Nachkriegs-Fackel nannte ich Kaiser Franz Joseph einen ›Staatsfallotten, der stets mehr Kaiserwetter als Verstand hatte, dem nichts erspart blieb und der eben darum der Welt nichts ersparen wollte‹.«

      »Schön und gut Herr Kraus aber das ist schon sehr lange her …«

      »Es muss richtig heißen: Schön und gut Komma Herr Kraus Komma …«, korrigierte er mich.

      »Werden Sie mich deshalb klagen?«

      »Keine Sorge, ich zitiere nur satisfaktionsfähige Gegner vor Gericht. Soll ich Ihnen sagen, wer meine Feinde waren? Zu ihnen zählten Arthur Schnitzler, Felix Salten, Hermann Bahr, der Kritiker Alfred Kerr, Wiens Polizeipräsident Johannes Schober, der korrupte Zeitungszar Imre Békessy und Sigmund Freud …«

      »… dessen Psychoanalyse Sie als jene Geisteskrankheit bezeichneten, für deren Therapie sie sich hält.«

      »Den Satz empfand ich als besonders treffend«, sonnte sich Kraus in seiner eigenen Formulierung.

      »Freud und die Psychoanalyse haben Ihre Sprüche überlebt, Herr Kraus. Im Übrigen muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie selbst es waren, der so manchen Ihrer Gegner erst unsterblich machte.«

      »Wieso?«

      »Weil viele von ihnen längst vergessen wären, hätten Sie sie nicht durch Ihre meisterhaft formulierten Essays in die Literaturgeschichte eingehen lassen. Wer wüsste heute noch von der Existenz des Zeitungsmagnaten Békessy, hätten Sie ihn nicht mit den Worten ›Hinaus aus Wien mit dem Schuft!‹ berühmt gemacht? Wem würde der Name des Polizeipräsidenten Schober noch etwas sagen, hätten Sie nicht Plakate affichieren lassen, auf denen stand: ›Ich fordere Sie auf, abzutreten.‹«

      »Mit gutem Grund. Herr Schober hatte die blutige Niederschlagung des Aufstandes im Juli 1927 zu verantworten. Die von ihm befehligte Polizei schoss vor dem Wiener Justizpalast wahllos auf Menschen, von denen viele, auch Kinder und Unbeteiligte, starben.«

      »Dollfuß unterstützten Sie hingegen.«