Kinder gehen alle auf das Eliteprivatgymnasium unseres Heidepastors Wilhelm Bode in Amelinghausen. Stimmt’s, Frau Brandt?“ Er hob die Hand und stach mit einem seiner Wurstfinger durch die Luft in Richtung des Cafés, neben dem sich die Schüler in kleinen Grüppchen mit ihren Eltern aufhielten.
„Ende der Woche gibt es eine Pressekonferenz, auf der Sie sich informieren können.“ Ohne einen Gruß drehte sich Inka um. Sie hörte, wie der Kameraauslöser klickte und kleine Blitze wie Pfeile an ihr vorbeischossen. Inka warf dem Reporter einen Schulterblick zu. „Verschwinden Sie, Kohlhase, sonst lass ich mir für Sie etwas einfallen.“
Als Kohlhase zu seinem Wagen schlurfte, trudelte der nächste Nachrichtenvan ein. Die Nachricht, dass ein Werwolf in der Lüneburger Heide am Lopausee in Amelinghausen gesichtet wurde, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Eine hochgewachsene Brünette stieg aus ihrem Wagen. Wie bei Kohlhase hing ihr eine Kamera um den Hals, die bei jedem ihrer schweren Schritte über ihrem Bauch hin und her baumelte. Auf der Seite ihres schwarzen Vans las Inka in weißer Aufschrift LAN-Fernsehen.
„Guten Morgen“, sagte sie. „Entschuldigung, das Händeschütteln hab ich mir abgewöhnt.“ Sie lächelte. „Sie müssen Frau Brandt sein.“ Ohne auf Inkas Antwort zu warten, plauderte sie munter weiter. „Ich bin Beas Mutterschaftsvertretung.“ Sie winkte Mark zu, der inmitten der Eltern stand und Personalien aufnahm. „Mark weiß Bescheid, dass ich hier bin.“
„So, na dann. Was kann ich für Sie tun?“, fragte Inka.
„Mir erzählen, was hier los ist. Ein Werwolf soll am Lopausee sein Unwesen treiben und gemordet haben. Was sagen Sie dazu, Frau Brandt? Was ist wahr daran und was nicht?“
„Frau …“
„Entschuldigung, ich hab mich nicht vorgestellt. Helma Flöter.“
„Frau Flöter, ich weiß nicht, was Sie mit meinem Kollegen Mark Freese besprochen haben, aber ich werde Ihnen zu diesem Zeitpunkt keine Auskunft erteilen.“ Inka spiegelte sich in den Brillengläsern der Reporterin. Und auch ohne in einen Spiegel zu sehen, erkannte sie, dass sie verdammt müde aussah.
„Och, kommen Sie, Frau Kommissarin. Nur ein paar kleine Details, so unter dem Tisch. Ich muss doch was über den Sender laufen lassen. Sind Drogen und Alkohol bei den Kids im Spiel? Das Elitegymnasium war ja vor einem Jahr bereits in den Schlagzeilen. Nur die eine Frage, Bea ist doch …“, begann sie munter ohne einen Anflug von Müdigkeit zu dieser frühen Morgenstunde.
„Woher stammen Ihre Informationen über den Werwolf, Frau Flöter?“
„Aber, aber, Frau Brandt, Sie wissen doch, wir Reporter dürfen unsere Quellen nicht preisgeben.“ Helma Flöter blinzelte verschwörerisch. „Aber so unter der Hand, ein paar Informationen austauschen, das …“, begann die Reporterin, als Inka sie barsch unterbrach.
„Ich weiß nicht, was Sie für eine Vorstellung von meiner Arbeitsmoral haben, Frau Flöter, aber um es klar auszudrücken, es gibt keine Sonderbehandlung, nur weil Bea mit meinem Kollegen verheiratet ist. Sie werden die Pressekonferenz, die möglicherweise in der nächsten Woche stattfindet, abwarten müssen. Einen schönen Tag.“
Inka drehte sich um und ließ die Fernsehreporterin stehen, die hinter ihr herrief, sie möge ihr wenigstens eine Frage beantworten. In der Vergangenheit waren die Presse und das Fernsehen bei der Suche nach Zeugen oder Verdächtigen öfter eine Hilfe gewesen, und die Frage der Reporterin nach Alkohol war, so wie Jannik schwankte, durchaus berechtigt. Trotzdem konnte sie die neugierigen Fragen der Reporter nicht ausstehen. Bea, mit vollem Namen Joulie Sophie Beatrice de Leclerc, seit vier Monaten Marks Ehefrau, benahm sich zurückhaltend und bewies Diskretion, bis Fritz Lichtmann, Inkas Chef, ihren Artikel abgesegnet hatte. Eine Übereinkunft, die funktionierte. Mit Helma Flöter würde er nicht warm werden, das war gewiss. Sie sah zu Mark, der seinen Notizblock zuklappte und mit großen Schritten auf sie zueilte.
„Na, bist du durch?“, fragte Inka und beobachtete, wie sich die letzten Elterngruppen mit ihren Kindern auflösten.
„Ja. Rommel nimmt die letzten zwei Personalien auf“, sagte Mark. „Das war die Flöter.“ Mark wippte mit dem Kinn zum Fernsehvan, der über den Sandweg Richtung Hauptstraße davonrollte. „Sag mir nicht, sie wusste, was hier los war?“
„Sie meinte, du wüsstest, dass sie hier auftaucht.“
„Sicher nicht!“, protestierte Mark. „Bestimmt hat sie sich mit Kohlhase zusammengerottet.“
Inka nickte. „Ich frag mich nur, woher die beiden das mit dem Werwolf haben.“
„Na, woher wohl? Kohlhase hat wieder den Polizeifunk abgehört, was sonst?“, sagte Mark und wippte mit dem Kinn zum Transporter, in dem der Reporter weiter auf Nachrichten hoffend ausharrte.
Inkas Handy klingelte. Amselfeld ruft an, las sie auf dem Display.
„Ja, Kollege“, sagte sie.
„Wir haben den Platz gefunden, an dem Schubert angegriffen wurde.“
Inka suchte mit den Augen die Umgebung ab. Weit konnte Amselfeld nicht sein, seine Stimme klang, als würde er neben ihr stehen. „Wo sind Sie?“
„Neben dem Parkplatz. Ungefähr zehn Meter von Ihnen entfernt.“
Inka scannte erneut die Umgebung. Durch das winterlich lichte Buschwerk auf dieser Seite des Sees stachen die Scheinwerfer der restlichen Autos, die kreuz und quer auf dem Parkplatz standen. Hinter dem Absperrband auf dem Weg der Seepromenade stand Amselfeld und winkte mit den Armen in der Luft, als wolle er eine Schar Fliegen vertreiben.
„Ja, ich sehe Sie, Amselfeld. Ich komme.“
Fridolin Kärcher und sein Team der Spurensicherung stellten erneut Scheinwerfer auf, verteilten, wie am Tatort, Schildchen mit Nummern. Vom gleißenden Licht angelockt, umschwärmten ganze Heerscharen von Insekten die von einem Metallgeländer umzäunte kleine Plattform, die in den See hineinführte. Neben einer Holzbank standen eine Flasche Champagner und zwei Gläser. Ein brauner Ledersneaker lag in einer Blutspur.
Inka sah über den See, der vom Mondlicht und von den Scheinwerfern angestrahlt wie eine große ausgebreitete silberne Folie glänzte. Rechts hinter dem See lag die rasenbewachsene Lichtung, dann der dichte Wald und dahinter die Hauptstraße, die in weitere Heideorte führte.
„Habt ihr hier auch Fußabdrücke gefunden?“, fragte Mark.
„Du meinst von einem Werwolf.“ Fridolin Kärcher schmunzelte. „Sieh her. Zwei große Abdrücke, Größe achtundfünfzig, wie neben dem Opfer. Was für ein Tier hinterlässt solche riesigen Abdrücke?”
„Ein Bär.“ Mark musterte den Fußabdruck skeptisch.
„Hier in der Heide? Ein Bär? Du hast dich wohl in der Landschaft geirrt. Oder hast du irgendwo gehört, dass bei uns heutzutage noch Bären rumlaufen?“
„Mir fällt gerade ein … vor einer Woche gastierte ein Zirkus in Amelinghausen“, sagte Amselfeld. „Der ließ zwei Tanzbären im Programm auftreten.“
„Sollte diese Quälerei nicht längst verboten sein?“, brüskierte sich Inka.
„Ja. Ich bin mit meinen Kleinen nur hingegangen, weil nichts von Tierakrobatik in der Werbung stand. Ansonsten boykottiere ich den Zirkus, der mit Tieren arbeitet.“
„Das ist richtig“, mischte sich der Kriminaltechniker ein. „Ebenso im Zoo. Was haben eine Giraffe, ein Zebra, ein Nilpferd und was weiß ich noch, eingesperrt hinter Gittern, bei uns in Deutschland zu suchen? Noch schlimmer sind die Delfinarien, in denen die Tiere im Kreis in einem gefliesten Becken herumschwimmen“, empörte sich Fridolin.
Inka wusste, dass sich Fridolin in seiner Freizeit für den Tierschutz einsetzte und Mitglied in einer Organisation war, die sich gegen Missstände des vermeintlichen Tierwohls auflehnte. „Ich stimme euch ja zu, aber kommen wir für den Augenblick auf den Fall zurück.“ Sie nickte zum Fußabdruck. „Ist es möglich, dass der Abdruck auch von einem Menschen stammt?“
„Das