Schüler des Amelinghausener Pastor-Bode-Eliteprivatgymnasiums haben ein nächtliches Paintballspiel veranstaltet. Eine Schülerin, Lea Ohlsen, behauptet, sie wurde von einem Werwolf angegriffen und verfolgt, bis sie über den toten Biologielehrer auf der Holzbrücke gestolpert ist.“
„Aus dem Pastor-Bode-Eliteprivatgymnasium? Verdammt! Sind da wieder Drogen im Spiel, so wie vor einem Jahr?“
„Möglich. Lea erzählte von einem Joint, den ein Mitschüler am See geraucht hat, bevor das Paintballspiel begann.“
„Wundert mich, dass es nur ein Joint war. Die Kinder, die dort in die Schule gehen, sind so stinkreich, dass sie an mehr als nur Joints rankommen könnten. Wann begreifen die endlich, wie sie sich schaden? Früher …“, begann Lichtmann und stöhnte kurz auf, „… na ja, das kann man nicht vergleichen. Früher hatten wir auch einen Kaiser.“ Inka hörte, wie ihr Chef am anderen Ende der Leitung nieste.
„Gesundheit. Mark und ich glauben nicht an den Quatsch über den Werwolf, der die Schülerin verfolgt und womöglich Hendrik Schubert getötet hat. Du kennst unsere Meinung zu diesem paranormalen Kram. Dennoch vermutet Teresa, nach der ersten Sichtung des Toten, dass der Lehrer durchaus von einem Bären oder einem anderen großen Tier angefallen worden sein könnte.“
„Ein Bär? Bei uns in der Heide? Ist das eine Löns-Geschichte, in der es noch Haide anstatt Heide hieß und wo noch Bären in der Haide lebten und die Bauern noch Haidjer waren?“, fragte Fritz Lichtmann erstaunt.
„Und die Haidjer die Römer aus dem Land trieben, weil sie keinen Zins zahlen wollten, und es erbitterte blutige Kämpfe gab, die die Haidjer allerdings verloren. Woraufhin sie dann doch Zins zahlten, sich taufen ließen und Christen wurden. Was aber nur scheinheiliges Getue war, denn pflügten sie auf dem Feld, lagen neben ihnen der Speer und die Armbrust. Und noch etwas: An Werwölfe glaubten die Haidjer nur bedingt. Es gab einen Bauern, der Wulf hieß, dieser rief eine Gruppe ins Leben, die sich ab da Werwölfe nannte und jeden niedermetzelte, der sich an Alten, Kindern und Frauen vergriff, ihn tötete oder ausraubte. Zumindest schrieb das Hermann Löns in seinem Werk Der Werwolf“, mischte sich Mark geschichtlich ein.
„Wow, und ich dachte, du hast den Geschichtsunterricht verpennt.“ Inka lachte und Fritz stimmte ein. „Aber zurück“, sagte sie. „Wir sind auf dem Weg zum Vater des Lehrers, der in einem Mobilheim auf dem Campingplatz Mühlenkamp lebt. Dort wohnte Hendrik Schubert, seitdem er sich von seiner Frau getrennt hatte.“
„Der Platz liegt nur ein paar Meter neben dem Lopausee. Wir vermuten, er wollte nach dem Angriff von der Plattform dorthin flüchten, auf der er sich mit einer Frau, möglicherweise seiner Geliebten, getroffen hat. Allerdings schaffte er es nur bis zur Holzbrücke, auf der hat ihn der Täter eingeholt. Einen Raubmord schließen wir aus, da wir das Opfer mit einem Diamantring und zwanzigtausend Euro in der Tasche fanden“, setzte Mark nach.
„Moment. Das Opfer hat sich auf der Aussichtsplattform am See mit einer Frau, aber nicht mit seiner Frau getroffen? Und er hatte einen Haufen Geld und ein teures Schmuckstück dabei?“, fragte Lichtmann nach.
„Ja. Wir vermuten, dass er mit Anna Weiler, der Unternehmerin der Windparkfirma Kobarski & Weiler, am See war. Laut Auskunft des Schuldirektors war sie Hendriks neue Flamme.“
„Die Weiler war in der Nacht auch am See? Ich kenne sie, oberflächlich, ein Bekannter beim … das führt zu weit. Aber neulich waren Charlotte und ich auf ihrer Veranstaltung der geplanten Windparkanlage eingeladen, die sie nahe Schwindebeck hochziehen will. Die Weiler und ihr Partner, der Kobarski, haben ordentlich aufgetischt und damit meine ich nicht das Büfett, sondern die Windkrafträder, die sie am Naturschutzgebiet aufstellen wollen. Allerdings las ich vor ein paar Tagen von einem Baustopp. Es geht um eine bedrohte Vogelart.“ Fritz Lichtmann zögerte. „Wie hieß der Flattermann noch, irgendetwas mit Pfeifer … na ja, fällt mir wieder ein.“
„Ob sie die Frau war, mit der sich Schubert getroffen hat, können wir nicht eindeutig sagen, dazu fehlt uns der zweite Schuh“, erklärte Mark.
„Ein Schuh?“
„Richtig. Aschenputtel hat einen Sneaker verloren, als sie laut Spusi in den See gesprungen ist oder geschubst wurde. So lautet Fridolins Aufstellung der Untersuchung.“
„Du hast das mit Blut gemalte Zeichen der Wolfsangel neben Schubert vergessen, Mark“, setzte Inka nach. Sie hörte, wie ihr Chef am anderen Ende erneut nieste.
„Eine Wolfsangel? Sagt mir jetzt nicht, wir bekommen es mit den Nazis zu tun?“, näselte Fritz.
„Wir hoffen nicht. Kurier du dich aus und lass dich von Charlotte verwöhnen.“
„Charlotte soll mich verwöhnen, wann denn? Sie arbeitet, falls du es vergessen hast. Meinen Männerschnupfen werde ich alleine los.“ Fritz lachte ins Telefon. „Meldet euch, sobald es Neuigkeiten gibt oder ihr Hilfe braucht.“
„Jawohl, Chef“, antwortete Inka schmunzelnd und legte auf.
Zehn Minuten später lenkte Mark den Wagen durch die Einfahrt auf den Campingplatz Mühlenkamp und ließ das Fahrerfenster herunter. Walter Schubert stand vor seinem Mobilheim und rauchte. Aufmerksam beobachtete er den fremden Wagen, der vor seinem Gartenzaun parkte.
„Sind Sie Herr Schubert?“, fragte Mark aus dem Fahrerfenster.
„Der bin ich. Und Sie?“ Er drückte die Kippe in einen Aschenbecher, der auf dem Boden neben einer geöffneten Fliegengittertür stand. „Wissen Sie schon, wer es war?“, fragte er leise, als Mark Inka und sich dem Senior vorgestellt und den Grund ihres Besuches erklärt hatte.
Inka musste sich Mühe geben, ihre Tränen zurückzuhalten. In den Jahren bei der Polizei fiel es ihr immer schwerer, ihre Emotionen zu kontrollieren und einen neutralen Blick auf den Fall zu bewahren. Besonders nachdem Paula am Timmendorfer Strand verschwunden war und sie zwei Tage mit ihren Kollegen und Sebastian nach ihr gesucht hatten. Sie hatte Höllenqualen ausgestanden. Ein Kind zu verlieren, egal in welchem Alter, war das Schrecklichste, was Eltern passieren konnte. Ob nun durch einen Unfall, Mord, Entführung oder nur durch Verlassensein. Verlassene Eltern. Erwachsene Kinder, die von heute auf morgen den Kontakt zu ihnen abbrechen. Hanna erzählte ihr von einem befreundeten Ehepaar, dem es mit seiner Tochter so erging. Sie sagte, die Eltern sprachen davon, es hätte ihnen das Herz herausgerissen und sie wären von einem auf den anderen Tag um Jahre gealtert. Genauso hatte sich Inka in Lübeck gefühlt. Auch nachdem sie Paula wieder gesund in die Arme schließen konnte, war der Schmerz heute noch fühlbar. Und jetzt stand vor ihr ein Vater, der seinen Sohn verloren hatte und den er nie mehr in die Arme schließen konnte. Beim Anblick des trauernden Elternteils zog sich Inkas Herz schmerzhaft zusammen. Sie schluckte schwer. Sie war fest entschlossen, den grausamen und mysteriösen Tod von Hendrik Schubert aufzuklären.
„Es tut mir sehr leid, Herr Schubert“, sagte sie. „Können wir etwas für Sie tun? Es gibt eine Psychologin, die ich Ihnen schicken und die Ihnen beiseitestehen könnte.“
„Nein. Ich möchte nur alleine sein und meine Frau anrufen.“
„Ich verstehe“, antwortete Inka, „doch müssten wir Ihnen eine oder zwei Fragen stellen. Meinen Sie, das wäre möglich?“ Sie sah den Mittsechziger, der auf einem Gartenstuhl Platz genommen hatte, fragend an.
„Ja“, sagte er schwach, den Kopf gesenkt.
„Seit wann hat Ihr Sohn bei Ihnen gewohnt?“
„Seit drei Monaten. Anfang August ist er eingezogen.“
„Was war der Grund?“
„Den hat er uns nicht gesagt. Er meinte nur, wir sollen uns nicht beunruhigen, es wird alles gut. Wir haben gedacht, dass sich mit Susanne alles wieder einrenkt. Manchmal braucht man eine Auszeit von der Ehe.“ Walter Schubert zitterte. „Muss ich meinen Sohn identifizieren?“
„Nein“, antwortete Inka. Susanne Schubert hatte sich bereit erklärt, und das, obwohl Inka sie wegen des Zustandes der Leiche vorgewarnt hatte. „Seine Frau ist einverstanden, Ihren Sohn …“
„Ich will