ein. Oma Pusch nahm Rita den Eimer ab, legte Schere und Sandschaufel hinein und schlenderte eingehakt mit dem alten Paradiesvogel in Richtung Hafen zurück. Heimlich im Gepäck trug sie eine ganze Menge Fotos des merkwürdigen Torsos. Der Hut blieb auffällig zurück.
Ritas Schauspiel
Sehnsüchtig blickte die Freundin hinter Oma Pusch her. Dies hier war eine Aufgabe, der sie sich nicht wirklich gewachsen fühlte. Eigentlich log sie nicht, sondern sagte immer die Wahrheit, bis auf ein paar kleine Notlügen vielleicht, aber das machte ja jeder. Dafür musste man sich nicht schämen, doch hier am Strand jetzt ein Riesenzinnober zu veranstalten, das war so gar nicht ihre Art. Na ja, es half nichts, mit seinem Schicksal zu hadern. Sie hatte es versprochen und wollte Lotti nicht im Stich lassen. Damit Rita nicht wie Piksieben herumstand, hielt sie ihre Hand über die Augen und tat so, als ob sie aufs Meer starren und nach irgendeinem imaginären Schiff Ausschau halten würde. Als die beiden Totengräber außer Sicht waren, fasste sie sich ein Herz und schlenderte wie zufällig in Richtung Hut, hob ihn auf und fing wie wild an zu kreischen. Dabei trampelte sie auf der Stelle. Es sah eher komisch aus, tat aber seine Wirkung. Die Leute wurden neugierig und wollten ihr zur Hilfe eilen.
„Hilfe, eine tote Leiche!“, schrie Rita, um für noch mehr Tumult zu sorgen. „Mit ohne Augen, ihh!“
Jetzt gab es kein Halten mehr. Die menschliche Natur war im Grunde schlicht. Sensationslust trieb all die Touristen wie von Zauberhand herbei, die in Hörweite am Strand waren. Das wollte man sehen. Nachdem sich eine Traube um den bedauernswerten Schädel gebildet hatte, zog sich Rita unauffällig aus der Affäre, indem sie mit kleinen, leisen Schritten rückwärtsging. Zur Tarnung zog sie sich den Dekoschal, den sie um den Hals trug, wie ein Kopftuch über. Die Enden baumelten über die Schulter. Ihre Brille steckte sie in die Tasche, dann schlüpfte sie aus der Hose. Glücklicherweise war ihre Bluse lang genug. Bisher hatte sie sie in den Bund gesteckt. Jetzt sah es aus, als ob sich eine ältere Dame im Strandkleid vor der sengenden Sonne schützte. Die Verwandlung war perfekt. In einiger Entfernung blieb sie stehen und blickte zurück. Die Menschentraube war noch größer geworden. Sie konnte den Kopf ganz getrost seinem Schicksal überlassen. In Kürze würde er geborgen werden. Damit würde auch die Suche nach dem Mörder beginnen. Denn eins war ja wohl sonnenklar: Niemand, der keinen Dreck am Stecken hatte, wäre auf die Idee gekommen, einen Torso am Strand zu vergraben.
Konspirative Sitzung im Kiosk
Als Rita am Kiosk ankam, hatte Oma Pusch alle Hände voll zu tun. Hinnerk stand hinten an der Anrichte und schmierte Brötchen, während ihre Freundin einen großen Eimer mit Rollmöpsen öffnete. Die Schlange vor dem Kiosk war lang. Dass Oma Pusch die besten Rollmopsbrötchen in Neuharlingersiel anbot, war längst kein Geheimtipp mehr. Mit einem Spritzer aus der Honigflasche verlieh sie den Snacks einen besonderen Pfiff. Außerdem geizte sie nicht mit dem Fisch und legte ein Röllchen mehr drauf. Jetzt, so kurz vor Mittag, regte sich der Appetit der sonnenhungrigen Strandlieger.
Aber heute konnte man behaupten, dass sich eine wahre Invasion vor dem Tresen tummelte. Das war einerseits gut, weil Oma Pusch viele Menschen ausfragen konnte, andererseits sprengte die Masse an Touristen schon fast die Kapazität ihrer Ressourcen.
„Rita, hol mal bitte schnell noch 20 Brötchen bei Hinrichs“, bat Oma Pusch. „Wir sind gleich ausverkauft.“
„Schick doch Hinnerk und ich schmiere weiter. Das geht mit Sicherheit schneller“, schlug Rita vor.
„Auch wieder wahr“, gab Oma Pusch zu. „Du hast mehr Routine.“
„Hab’s schon kapiert“, sagte Hinnerk und schmunzelte. „Ihr Weiber wollt unter euch sein, aber glaubt ja nicht, dass ihr mich ausbooten könnt. Ich bin gleich wieder mit von der Partie, dass das klar ist.“
„Ja, ja, du oller Meckerheini“, zischte Oma Pusch, ohne dass der Fischer es hören konnte. Dann drückte sie ihm einen Zehneuroschein in die Hand.
„Das sind ja mindestens 20 Mann, die da anstehen“, wunderte sich Rita. „So was hatten wir noch nie.“
Oma Pusch machte ein nachdenkliches Gesicht. „Das liegt alles an der Klimaerwärmung, weißt du. Bei über 40 Grad hältst du es im Inland ja auch nicht aus. Darum flüchten jetzt alle entweder in die Berge oder an die Nordsee. Ans Mittelmeer will überhaupt niemand mehr. Wer möchte sich schon grillen lassen! Du hast es doch vorhin gesehen. Der ganze Strand war bunt von Touristen. Ich mag es ja, wenn viel los ist, aber das ist mir ehrlich gesagt schon einen Schlag zu viel. Wo soll das noch hinführen?“
„Ich hoffe, Hinnerk beeilt sich, sonst sitze ich hier bald auf dem Trockenen. Nur drei Brötchen sind noch da“, seufzte Rita. „Wie sieht es denn mit den Rollmöpsen aus?“
„Keine Bange, alles andere ist reichlich da, auch der Honig“, beruhigte Oma Pusch ihre Freundin.
Doch mit einem Mal lief jemand auf die Warteschlange zu, gestikulierte wie wild und die Leute liefen in Richtung Strand. Nur zwei Hartgesottene blieben am Tresen stehen. Der Rest hatte sich verflüchtigt.
„Oha“, stöhnte Oma Pusch. „Was ist das denn jetzt? Wo sind die alle hin?“
„Wir hörten was von Polizei“, erklärte die Kundin, die mit ihrem Mann auf zwei Rollmopsbrötchen wartete.
„Echt? Hoffentlich kein Badeunfall“, sagte Oma
Pusch scheinheilig. „Mit vollem Magen sollte man ja nicht ins Wasser, und jetzt zur Mittagszeit hält sich vielleicht nicht jeder dran.“
„Das ist gut möglich“, erwiderte die Frau, „aber dass die da alle gleich hinrennen müssen.“
Oma Pusch zuckte mit den Schultern und reichte dem Ehepaar zwei Teller. Sie wollten direkt am Kiosk speisen. Darum war nur ein ganz leises Gespräch mit Rita möglich.
„Unser Plan ist aufgegangen“, freute sich Oma Pusch, „und wir sind fein raus. Wenn Hinnerk wieder hier ist, soll er die Stellung halten. Ist ja nix mehr los. Höchste Zeit für uns, schnell zum Strand runterzudüsen. Wo ist das Zelt? Wir könnten uns von der Drachenwiese her anschleichen. Ich hab ja den Boden rausgeschnitten. Wenn wir uns klein machen und langsam auf
Knien ranrobben, sieht niemand, dass das Zelt wie von Geisterhand immer mehr in Richtung Fundort wandert. Möglicherweise gelingt es uns, meinen Kommissarneffen Eike zu belauschen oder Enno zuzuhören, wenn er aus dem rechtsmedizinischen Nähkästchen plaudert.“
Hinnerk stutzte, als er zurückkehrte. „Huch, wo sind die denn alle hin?“
„Die Polizei ist am Strand“, erklärte Oma Pusch und hatte damit die beste Garantie, dass Hinnerk lieber im Kiosk bleiben würde. „Was hältst du davon, wenn Rita und ich schnell mal spionieren gehen? Anschließend beratschlagen wir zu dritt, was zu tun ist. Einverstanden?“
„Ja, ja, geht ihr ruhig, ich bleibe lieber hier. Mir ist so heiß. Der Weg zum Bäcker hat mich richtig geschafft“, ächzte Hinnerk zur Untermalung.
„Okay, bis gleich“, erwiderte Oma Pusch.
Mit dem Zelt in der Hand liefen die beiden Frauen an Hinnerk vorbei.
„Was wollt ihr denn damit?“, fragte er.
„Keine Zeit, erklären wir dir später“, rief Rita ihm zu.
Dann waren die zwei Hobby-Ermittlerinnen schon außer Sicht.
Spionage im Zelt
Oma Pusch und Rita hatten beschlossen, sich der Sache von Westen aus zu nähern. Auf der Drachenwiese war im Gegensatz zum Strand weniger los. Während sie auf dem Deich entlangliefen, hatten sie von oben eine gute Sicht auf den Fundort. Doch auch hier standen bereits einige Gaffer, denen sie ausweichen mussten. Unten, wo der Torso vergraben lag, hatte sich eine Traube von Menschen rund um die Absperrung gebildet. Das war Mist, denn es behinderte ihre geplante Aktion. Sie mussten unbedingt auf Hörweite an das Geschehen herankommen und wussten noch nicht wie.
Oma Pusch zog ihr Smartphone heraus und stellte die Kamera