nicht fotografieren, sondern mit dem Zoom nachgucken, wer alles schon da ist.“
„Den Leichenwagen deines Sohnes Nils habe ich vorhin aus den Augenwinkeln gesehen“, informierte Rita ihre Freundin.
„Kein Wunder“, lachte Oma Pusch, „dem hab ich ja auch eine WhatsApp-Nachricht geschickt. Nicht, dass die anderen Geier vor ihm da sind und er keine Geschäfte macht. Er braucht das Geld. Du weißt doch, dass er seit Kurzem eine Perle hat. Endlich!“
„Kennt sie seinen Beruf?“, hakte Rita nach.
„Ja, aber das hat sie nicht abgeschreckt, eher meine Wenigkeit, weil ich kürzlich mal zufällig und aus Versehen bei ihm reingestürmt bin, weil ich dachte, dass es ihm schlecht ging. War aber echt nicht meine Absicht, in so eine delikate Situation . . .“
„Ja, ich erinnere mich an die Geschichte“, fiel Rita wieder ein. „Wenn sie trotzdem noch da ist, könnte das nun doch noch was werden mit den Enkeln. Desinfiziert Nils sich eigentlich hinterher?“
„Nach dem Sex?“, fragte Oma Pusch perplex. Sie war in Gedanken noch in Nils’ Schlafzimmer.
„Nein, nach der Arbeit, Lotti, was sonst?“
„Keine Ahnung, wahrscheinlich ja. Was interessiert mich das denn? Warte, ich erkenne Eike da am Strand und in Uniform den Martin Hinrichsen. Mein Schwager Enno ist auch schon da mit seiner Arzttasche. Er steht aber bei den Gaffern an der Absperrung. Keine Ahnung, warum. Ach, guck, da ist auch die Nele von der Spurensicherung. Wo wohl ihr Chef Bodo Siebenstein rumschwirrt? Den kann ich nirgends entdecken. Aber Nils und Rico sind mit einem schwarzen Leichensack da, glaube ich. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch irgendwas mitkriegen wollen.“
Gesagt, getan. In Windeseile rannten die Seniorinnen über die Wiese. Man sollte nicht meinen, wie fit sie noch waren. Das Radfahren, die Ermittlungen und der Kiosk hielten sie auf Trab. Da blieb einfach keine Zeit zum Älterwerden. Vorsichtig näherten sie sich über das Gras hinweg und stülpten sich dann das Zelt über. Jetzt ging es nur noch im Zeitlupentempo und auf Knien weiter.
„Mensch, wie kommen wir denn da nur ganz dicht ran?“, überlegte Rita flüsternd. „Sehen tun wir ja sowieso kaum was, aber hören wäre toll.“
„Ich hab eine Idee“, wisperte Oma Pusch zurück und lugte durch das kleine Dreieck an der Vorderseite, das nur mit einem Fliegengitter bespannt war. Als sie sich nahe genug an die Menschenmenge herangerobbt hatten, verstellte sie ihre Stimme. „Achtung, Achtung! Aus dem Weg! Bitte Platz machen für die Spurensicherung! Sie behindern sonst die Bodenuntersuchungen.“
Diese Aussage war nicht ganz ungefährlich. Sie musste in der richtigen Lautstärke erfolgen. Leise genug, um die echten Ermittler nicht zu erreichen, aber kräftig genug, um die Gaffer zu beeindrucken. Kurzfristig erwog Oma Pusch, auch die vermeintlichen Kreuzottern erneut ins Spiel zu bringen, aber das hätte möglicherweise zu einer Panik geführt und ungewollt Aufmerksamkeit erregt. Das konnten die beiden Frauen auf keinen Fall gebrauchen. Sie robbten langsam weiter. Aber die Ansage aus dem Dunkel des Zeltes hatte Wirkung gezeigt. Wie ein Heringsschwarm teilte sich die Menge und ließ sie durch, um danach wieder zusammenzuschwappen. Rita und Oma Pusch waren unsichtbar eingeschlossen in den Reihen der Touristen und daher in der besten Deckung, die man sich vorstellen konnte. Als Oma
Pusch jedoch vorsichtig die Nase aus dem Reißverschluss steckte, blickte sie direkt auf den Zipfel eines durchscheinenden Nachthemdes und ein Paar sehr alte, nackige Beine. Der Seewind ließ vermuten, dass sich unter dem geblümten Kleidungsstück nichts weiter befand, aber das wollte Oma Pusch nicht so genau wissen, denn sie hatte bereits erkannt, wer da vor ihr stand und sich auf seinen Rollator in Violett metallic stützte.
„Direkt vor uns steht die alte Marga“, flüsterte Oma Pusch ihrer Freundin zu.
„Wie ist die denn bis hierhergekommen?“, wunderte sich Rita.
„Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht“, wisperte Oma Pusch, „aber ich glaube, sie hat keine Unnerbüx an.“ Dann lauschte die heimliche Ermittlerin in Richtung Fundort, indem sie ihre Hände wie einen Trichter an die Ohren hielt.
„Kannst du denn was verstehen?“, erkundigte sich Rita.
Oma Pusch schüttelte den Kopf. „Aber ich kann ein bisschen was sehen. Warte!“ Sie zog wieder das Smartphone hervor und stellte auf zehnfache Vergrößerung. Dann lachte sie leise. „Du, die pinseln an der Glatze herum. Wahrscheinlich wissen die noch nicht mal, dass da unten kaum was dranhängt.“
„Hast du das Nils denn gesagt? Ich meine, damit er und Rico nicht erst mit so einem großen Transportsarg anrücken“, erklärte Rita.
„Bin ich bescheuert?“, fragte Oma Pusch. „Damit hätten wir uns doch verraten. Ich weiß aber, dass die neuerdings sowieso nur noch mit den schwarzen Säcken rumlaufen. Der Junge kommt auch langsam in die Jahre, weißt du. Ich glaube, er hat es mit dem Knie. Tagtäglich diese Schlepperei! Und oft der Weg durch den Sand, da sinken sie sonst noch mehr ein, wenn dann auch noch das Gewicht vom Sarg dazukommt. Rico hat sich schließlich durchgesetzt. Jetzt haben sie diese Säcke. Okay, die sind sicher praktisch, aber ich finde trotzdem, dass so ein Körper auf diese Weise wie Abfall verpackt wird. Daran werde ich mich nie gewöhnen.“
„Do geiht wat för!“, dröhnte es plötzlich krächzend über ihren Köpfen. „De Düvel is överall!“
Oma Pusch konnte sehen, wie die Ermittler am Strand zusammenzuckten. Jeder kannte die hochbetagte Marga, die der Zahl 100 bereits näher war als der 90. Meist erzählte sie vom Teufel und seinen Heimsuchungen. Wer konnte, wich ihr aus und suchte das Weite, doch oftmals erschien sie direkt bei der Polizei und erzählte ihre unheimlichen Geschichten. Man nahm sie nicht ganz ernst, aber über den Grad ihrer Demenz war sich niemand bewusst. Klar war nur, dass sie nicht mehr alle Lichter am Christbaum hatte. Nichtsdestotrotz hatten Oma Pusch und Rita herausgefunden, dass immer ein Körnchen Wahrheit in ihren Erzählungen steckte. Wenn man ihr genau zuhörte und pfiffig kombinierte, konnte man aus ihren Worten einen Teil herauslesen, der der Realität nahe kam. Das eine oder andere Mal hatte dieser Umstand Rita und Oma Pusch in die Lage versetzt, Fälle zu lösen, bevor die Kripo eine Ahnung hatte.
„De hätt sin Kopp verloren“, wusste Marga und schrie es gegen den Wind.
Nele Freese, die blonde Schönheit von der Spurensicherung, stöhnte. „Nicht wieder die olle Schnepfe!“
„Ist denn da nur ein Kopf?“, erkundigte sich Oberkommissar Eike Hintermoser neugierig. Wer sich über den merkwürdigen Namen wundert, bei dem Vorne und Hinten nicht zusammenzupassen scheint, schaut mal eben schnell ins Personenregister am Ende des Buches.
„Nee, ich sehe auch schon Schultern“, erwiderte Nele genervt. „Insofern hat die Alte unrecht.“
„Sie scheint mir auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel zu haben“, vermutete Oberkommissar Niklas Müller, der seit Kurzem das Team von Eike verstärkte. „Vielleicht ist sie nicht mehr ganz richtig im Kopf. Was hat sie überhaupt an? Ist das nur ein Nachthemd?“
Eike grinste frech. „Glaube mir, du wirst sie noch eher kennenlernen, als dir lieb ist, mein Freund.“
Eike Hintermoser und Niklas Müller hatten zusammen studiert. In dieser Zeit waren sie gute Kumpel geworden. Krischan Hansen, auch „Der Kaiser“ genannt, weil er im Grunde schon vor seiner Pension abgedankt hatte, würde nämlich bald in den Ruhestand gehen, und wegen der häufigen Mordfälle rund um Neuharlingersiel hatten sich die Oberen endlich entschlossen, eine weitere Kommissarenstelle zu bewilligen. Ob Hansens Posten wieder besetzt werden würde, war noch nicht bekannt, aber Eike hoffte es inständig.
„Wo ist eigentlich dein Chef, Bodo Siebenstein?“, fragte Eike.
„Der hat heute Urlaub, weil er im Garten helfen soll“, sagte Nele und grinste frech. „Ihr wisst schon, seine Lieblingsbeschäftigung. Ich wette, er wäre viel lieber hier.“
„Vielleicht tust du ihm einen Gefallen und rufst ihn an?“, schlug Eike augenzwinkernd vor. „Bei einem aktuellen Fall ist seine Anwesenheit doch bestimmt vonnöten, oder?“