Nané Lénard

FriesenFlut


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Bernstein anstatt Augen“, überlegte Enno laut. „Baumharz ist es, versteinertes.“ Er hielt beide Klunker nacheinander vor die große OP-Lampe, die über dem Sektionstisch hing. „Die funkeln und leuchten richtig. Wie Gold zum Beispiel oder ein Feuer. Geschliffen sind sie auch.“

      „Ohne Augen ist man blind“, schaltete sich Fokke in den Denkprozess mit ein, „daran ändern auch die Steine nichts.“

      „Blind“, sinnierte Enno, „auf beiden Augen blind. Bernsteine leuchten. Licht, leuchten, Erleuchtung. Ich hab’s. Das könnte es sein.“

      „Jemand, der auf beiden Augen blind ist, erlangt durch die Bernsteine Erleuchtung? Meinst du das?“, erkundigte sich Fokke.

      „Ganz genau“, freute sich Enno über das helle Kerlchen.

      „Bisschen weit hergeholt, finde ich“, erwiderte Fokke und machte jegliche Sympathie, die sein Gegenüber gerade für ihn fühlte, zunichte. „Aber wir können es auf jeden Fall im Hinterkopf behalten.“

      „Sehr großzügig“, murmelte Enno.

      „Was hast du gesagt?“

      „Uns sollte zunächst einmal die Frage beschäftigen, ob wir es hier mit Männlein oder Weiblein zu tun haben“, lenkte Enno ab.

      „Na ja“, begann Fokke, „in dem etwas zu üppigen Gesicht sehe ich Bartstoppeln, aber nur partiell. Haare waren auf dem Schädel wohl auch mal drauf, doch irgendjemand hat sie abrasiert, wahrscheinlich posthum. Ein wenig sprießt wieder. Sieht ziemlich schütter aus.“

      „Sprießen ist ja wohl zu viel gesagt“, korrigierte ihn Enno. „Dir muss ich doch nicht sagen, dass nach dem Tod überhaupt nichts mehr wächst.“

      „Nee, musst du nicht, aber der Mythos hält sich hartnäckig. Ich hab das eher im übertragenen Sinne gemeint“, erklärte Fokke. „Sicher weiß ich, dass lediglich die Haut schrumpft und es deswegen so aussieht, als ob was wächst.“

      Enno nickte beruhigt. „Jetzt wissen wir aber immer noch nicht, ob es ein Er oder eine Sie ist. Hast du eine Idee oder Vorschläge, um das schnellstmöglich herauszufinden?“

      „Ehrlich gesagt kann ich anhand der Optik auf keinen Fall sagen, welches Geschlecht unser Kopf hat“, gab Fokke zu, „also empfehle ich, ihn zu röntgen. Ich denke, dann kommen wir weiter.“

      „Guter Junge“, freute sich Enno, und Fokke verdrehte im Geiste die Augen, hielt aber lieber den Schnabel. Er war ja zu Gast. „Na, dann leg mal los und schlepp unsere Büste unter den Röntgenapparat. Ich mache uns unterdessen einen Kaffee.“

      Fokke nickte, packte sich das Leichenteil unter einigen Schwierigkeiten, denn er hatte das Gewicht stark unterschätzt. Es wäre einfacher gewesen, wenn er den Hals in den Schwitzkasten hätte nehmen können, aber er musste vorsichtig mit dem Exponat umgehen, damit keine Ergebnisse verfälscht wurden.

      Während Enno die Kaffeemaschine füllte, klingelte plötzlich sein Smartphone. Sofort wusste er, dass das nur seine angebetete Lotti sein konnte – selbstverständlich auf der Suche nach Informationen und leider nicht wegen seiner tollen Ausstrahlung.

      „Ennolein“, flötete sie in den Hörer und machte sich daher sofort verdächtig. Sonst sagte sie nie so etwas zu ihm. „Du, Ennolein, sag mal, was machst du gerade?“

      „Scherzkeks“, erwiderte Enno. „Woher weißt du das mit der Leiche? Hat es sich schon unter den Urlaubern herumgesprochen? Am Strand habe ich dich nämlich gar nicht gesehen. Muss ich mir Sorgen machen?“

      „Ach was“, sagte Oma Pusch, „habt ihr den Rest auch schon gefunden? Zumindest einen Teil?“

      Enno schüttelte den Kopf. Diese Frau war unglaublich.

      „Nein, Lotti, tut mir leid, da kann ich dir echt nicht weiterhelfen. Ich bin hier mit Fokke in der Rechtsmedizin und versuche, dem Geheimnis der Büste auf den Grund zu gehen.“

      „Fokke? Wer ist Fokke? Hieß der Tote so?“, erkundigte sie sich.

      Enno stöhnte. „Nein, keine Ahnung, wir wissen doch noch nicht mal“, er unterbrach sich abrupt. Beinahe hätte er ihr wichtige Informationen gegeben. „Also, Fokke ist zurzeit in der Lehre bei mir, einfach ausgedrückt. Er will auch so was werden wie ich.“

      „Leichenschnippler?“, fragte sie amüsiert.

      „Danke, dass du wenigstens nichts mit Fleddern gesagt hast“, erwiderte Enno erleichtert. „Ja, er möchte auch Rechtsmediziner werden. Das ist nämlich ein höchst anerkennenswerter und nützlicher Beruf.“

      „Stimmt, genau wie Bestatter“, konterte Oma Pusch. „Findet die Damenwelt aber genauso ekelig.“

      Enno schnaubte. „Hier geht es steriler und akkurater zu als in mancher Küche, glaube mir! Davon können sich viele eine Scheibe abschneiden.“

      „Lieber nicht“, kam es prustend von Oma Pusch. „Scheibchen Lende oder Schulter. Nee, darauf kann ich echt verzichten. Ich möchte nur wissen, ob du schon irgendetwas herausgefunden hast, das für die Ermittlungen nützlich ist.“

      „Nein, noch nicht, und falls doch, würde ich es dir nicht sagen“, zischte Enno leicht beleidigt in den Hörer.

      „Ist wohl eher ’ne Frau“, blökte Fokke mit dem Röntgenbild in der Hand durch die Tür. „Hab aber noch was höchst Interessantes entdeckt.“

      „Ja, warte eben, ich komme“, versuchte Enno das Schlimmste zu verhindern. Nicht auszudenken, wenn Fokke aus Versehen weitere Interna ausgeplaudert hätte. Er konnte ja nicht ahnen, mit welchen listigen Weibern man es hier zu tun hatte.

      „So, so, also eher eine Frau. Dachte ich mir schon“, berichtete Oma Pusch.

      „Warum?“, fragte Enno perplex.

      „Wegen des Fingers“, erklärte Oma Pusch.

      Enno verstand nun gar nichts mehr.

      „Soll ich ihn dir nach Esens bringen oder muss die Spurensicherung herkommen?“, erkundigte sich Oma Pusch.

      „Wohin denn um Himmels willen?“

      „Na, zu mir in den Kiosk. Mach ich vorhin den Kühlschrank auf und will ganz hinten an die Rollmöpse“, erzählte sie. „Du weißt schon, die kleinen, durchsichtigen Eimerchen vom Großmarkt, und da liegt er da. Oder besser gesagt, er stand da wie ein mahnender Zeigefinger, vielleicht auch wie ein Stinkefinger. Wer will das wissen? Auf jeden Fall nicht schön das Teil. Das sage ich dir.“

      „Erstens, was ist es für einer? Zeige- oder Mittelfinger? Zweitens, fass nichts an!“, bat er. „Und was um alles in der Welt soll an einem toten Finger schon schön sein. Vor allem, wie kommt er in deinen Kühlschrank?“

      „Moment mal“, sagte Oma Pusch. Es raschelte. „Der steht da am Rand und lehnt an der Wand“, versuchte sie zu beschreiben. „Der ist irgendwie dick und bläulich verfärbt, aber ich kann dir echt nicht sagen, an welcher Stelle der abgetrennt worden ist.“

      „Und wie kommst du auf die Behauptung, dass es sich um eine Frau handeln könnte? Ob dein Finger mit unserer Büste zusammenhängt, ist darüber hinaus völlig unklar“, wandte er ein.

      „Büste, aha, mehr nicht?“, frohlockte Oma Pusch, denn Enno hatte sich nun doch verplappert. Natürlich wusste sie das längst, aber das würde sie ihm doch nicht unter die Nase reiben.

      Enno hingegen hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

      „Wenn wir Arme mit Händen hätten, wäre es leichter“, überlegte Oma Pusch. „Aber du hast überhaupt noch nicht gefragt, was da so richtig ekelig ist.“

      „Dann sag es mir doch“, forderte Enno.

      „Ein widerlich langer Kunstnagel!“, erklärte Oma Pusch. „So richtig primitiv. Du weißt schon, wenn man mal rumzappt und aus Versehen bei RTL landet. Da sitzen solche Weiber im Reality-TV: Fett, mit Dreifachkinn, meist tätowiert und noch