Nané Lénard

FriesenFlut


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rief eine Seniorin aus der zweiten Reihe. „Keine Erziehung mehr heutzutage. Fressen und wegwerfen, wie es einem passt. Wo kommen wir denn da hin?“

      „Manche entsorgen auch Tote“, kam Oma Pusch wieder auf ihr Thema zurück. „Die werden dann ebenfalls giftig, vom Leichengift nämlich. Darum muss der Sand drumrum großzügig abgetragen werden.“

      Der Herr direkt vor dem Tresen verdrehte die Augen. „Also, Ihre Brötchen sind wirklich lecker, aber Ihre Fantasie geht mit Ihnen durch. Sie sollten vielleicht lieber Bücher schreiben.“

      „Das wäre das Letzte, was ich täte“, lachte Oma

      Pusch herzlich. „Im stillen Kämmerlein allein hocken und in die Tasten hauen. Ich brauche Menschen um mich herum!“

      „Opa, bist du schon dran?“, rief es neben der Schlange. „Ich muss dir was erzählen.“

      „Du solltest doch auf der Drachenwiese bleiben“, schimpfte der Senior.

      „Das wollte ich auch, aber sie haben mich weggeschickt, und jetzt habe ich Hunger“, erklärte der kleine Justus.

      „Dann nimm hier mal schnell ein Brötchen“, sagte Oma Pusch. Ihr wurde warm ums Herz. Sie liebte Kinder und wollte so gerne noch Enkel von Nils, dem Bestatter.

      „Wer hat dich denn weggeschickt?“, wollte der Opa wissen.

      „So ein Polizist mit riesengroßen Ohren“, erklärte der Pöks. „Ich habe aber trotzdem gesehen, dass die eine Schaufensterpuppe in den Sack gesteckt haben, aber nur das Oberteil.“

      Der Großvater atmete tief durch.

      „Ach, das war Martin Hinrichsen“, erklärte Oma

      Pusch und kicherte. „Mein Neffe Eike nennt ihn heimlich Rhabarberblattohr, aber das darf er natürlich nicht wissen“, sagte sie mit einem Augenzwinkern zu dem Lütten.

      „Nu such dir doch schon mal eine schöne Bank hier am Hafen, wo wir uns hinsetzen können“, schlug er seinem Enkel vor. „Ich komme gleich.“

      „Wird gemacht!“, rief der und düste ab.

      „Schaufensterpuppe“, seufzte er. „Na, dann haben Sie wohl doch nicht ganz recht mit Ihrer Vermutung, aber sind die nicht immer glatzköpfig?“

      Oma Pusch nickte wissend. „Und sie können dennoch aus Fleisch und Blut sein.“

      „Nun geben Sie mir schon mein Brötchen, sonst brauche ich gleich keins mehr, wenn Sie weitererzählen“, seufzte er. „Mir scheint, hier spinnen nicht nur Fischer Seemannsgarn.“

      Das hatte Hinnerk im hinteren Bereich des Kiosks gehört.

      „Nee, da hast du recht, min Jung. Die Weiber sind viel schlimmer mit dem Klönschnack als wir. Sieh dich bloß vor! Aber in dem Fall hat sie recht“, versicherte Hinnerk und winkte ihm zum Abschied zu.

      „Dass diese Kerle immer so auf uns Frauen rumhacken müssen“, beschwerte sich die Seniorin. „Ein Rollmopsbrötchen, bitte.“

      Hinnerk hatte unterdessen Routine bekommen und konnte sofort liefern. Einen Kommentar sparte er sich. Zufrieden ging die Alte weg.

      „Was war das da eben mit der Schaufensterpuppe?“, erkundigte sich ein Mittdreißiger mit Vollbart. „Findet der ganze Zinnober nur statt, weil sie eine Plastikdame aus dem Sand gefischt haben? Hat sich da jemand einen Scherz erlaubt? Falls ja, fühle ich mich um einen

      Urlaubstag am Meer betrogen.“

      „Mein Lieber“, begann Oma Pusch besänftigend, „sei du mal froh, wenn das bei einem einzigen Tag bleibt, denn falls sich herausstellen sollte, dass wir es hier nicht mit Kunststoff zu tun haben, sondern“, sie räusperte sich, „sondern mit menschlichen Überresten, dann solltest du morgen lieber nach Benser-, Harle- oder Hooksiel fahren, denn ich fürchte, dass dann der Strand noch ein bisschen länger untersucht wird.“

      „Danke für den Tipp“, sagte er und schob mit seinem Brötchen ab.

      „Hallo, hallo“, rief es aufgeregt von hinten. „Kann mir jemand sagen, was hier los ist? Da hinten steht ein Leichenwagen.“

      Nun wurde es Oma Pusch zu bunt. Sie entschloss sich, eine Ansage zu machen.

      „Meine lieben Urlauber“, rief sie so laut sie konnte, „Verbrechen machen auch vor den schönsten Urlaubs­zielen nicht halt, aber seien Sie unbesorgt. Der Kommissar hier ist mein Neffe. Wir werden ruckzuck für Aufklärung sorgen, egal, was passiert ist. Wenn es gut läuft, arbeiten sie die ganze Nacht durch, damit der Strand morgen früh wieder freigegeben werden kann. Bis dahin empfehle ich Ihnen einen Besuch der Seriemer Mühle oder des Badewerks. Vielleicht setzen Sie auch nach Spiekeroog über. Da können Sie nahtlos weiterbaden. Oder Sie setzen sich in ein schönes Café hier am Hafen. Wer eine Ferienwohnung mit Balkon oder Terrasse hat, könnte im Schatten auch ein Buch lesen. Hier in der Tourist-Information können Sie zum Beispiel spannende Krimis kaufen, die an unserer Küste spielen. Damit Sie nicht so enttäuscht sind, gibt es jetzt für jeden von Ihnen ein Rollmopsbrötchen gratis, so lange der Vorrat reicht. Wir schmieren, Sie greifen zu!“

      Ein Raunen ging durch die Reihe der Wartenden, aber Oma Pusch war nicht nur großzügig, sondern auch extrem neugierig. Hier im Kiosk verschwendete sie ihre Zeit, was mögliche Ermittlungen anging. Den Verdienst hatte sie nicht nötig. Sie lebte von Vermietungen an Feriengäste und von Fridtjofs Lebensversicherung. Ihr Mann, der zugleich Enno Esens Bruder gewesen war, hatte ihr ein schönes Sümmchen hinterlassen. Das Schicksal und die See waren tückisch. Ihn hatte es beim Fischen förmlich auf den Grund des Meeres verschlagen, als der Mast durch eine Windböe umgeschwenkt war und ihn am Hinterkopf getroffen hatte. Wie ein Stein war er in die Tiefe gesunken. Die Fische, die er hatte fangen wollen, kicherten jetzt noch. Er konnte sie seitdem nur noch von unten betrachten. Das vermutete man zumindest, denn er war im wahrsten Sinne des Wortes nie wieder aufgetaucht.

      In Windeseile hatten Oma Pusch und Hinnerk die restlichen Brötchen geschmiert. Ausgerechnet für die letzten beiden Kunden musste sie einen neuen Eimer Rollmöpse öffnen. Und damit begann das Dilemma.

      Auf dem Tisch

      Während Bagger und Trecker den Strand in Eikes Auftrag unter die Lupe nahmen, tat Enno es im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Fragment auf seinem Sektionstisch. Er untersuchte die mysteriöse Büste.

      Die Rechtsmedizin befand sich im Kellergeschoss des Bestattungsinstitutes Fritsche & Esen. Das war aufgrund der kurzen Wege praktisch.

      In diesem Sommer hatte Doktor Enno Esen einen Hospitanten, der ebenfalls Rechtsmediziner werden wollte. Doktor Fokke Petersen war im Gegensatz zu ihm jung und attraktiv. Allerdings konnte diese Augenweide seinen Patientinnen egal sein. Sie waren ja schon tot. Enno hielt es für eine nahezu unzumutbare Verschwendung, dass dieser Mann nicht Gynäkologe oder zumindest Hausarzt geworden war.

      Wie viele Frauenherzen hätten ihm offen gestanden? So viele vergebene Chancen, schwelgte er in Erinnerungen an seine Zeit als Modearzt für Touristinnen, die er reihenweise flachgelegt hatte. Ein bisschen trauerte er dieser Zeit immer noch nach, auch wenn er mittlerweile ruhiger geworden war und sich in seine Schwägerin verguckt hatte. Wenn man bei den jungen Dingern nicht mehr landen konnte, musste man seinen Fokus auf andere Werte legen. Auf ein pfiffiges Köpfchen zum Beispiel, falls man sich gerne intelligent unterhielt oder darauf, dass jemand gut kochen konnte. Auch eine gewisse Bettwärme war nicht zu verachten, selbst wenn sie eher vom Kuscheln kam als von genüsslichen gymnastischen Übungen. Im Alter wurde der Mensch bescheiden und gab sich mit dem zufrieden, was sich ihm noch bot. In Oma Pusch vereinten sich für Enno all die Vorzüge, an denen ihm gelegen war. Er konnte sich sozusagen als Glückspilz bezeichnen, falls sie ihn jemals erhörte.

      „Ach, guck, was haben wir denn da?“, riss Fokke den älteren Kollegen aus dessen Gedanken.

      „Das wirst du mir hoffentlich gleich sagen“, erwiderte Enno und umschiffte so, dass er überhaupt nicht bei der Sache gewesen war.

      Mit einem scharfen Löffel förderte