Nané Lénard

FriesenFlut


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brauchen Verstärkung!“, frohlockte Oma Pusch. „Wer weiß, was die noch entdeckt haben.“

      „Vielleicht weitere Teile im Sand?“, überlegte Rita.

      Neugierig beobachteten sie, dass sich Nele weiter an der Stelle zu schaffen machte.

      „Aus dem Weg!“, dröhnte es plötzlich vom gegenüberliegenden Rand der Absperrung.

      Die wohlbekannte Stimme gehörte einem älteren Herrn mit halblangem, weißem Haar. Er hatte einige Zeit dort gestanden und das Treiben beobachtet. Aber jetzt hielt er den Moment für gekommen, sich ins Geschehen einzubringen. Doktor Enno Esen hielt sich selbst für einen Müller-Wohlfahrt des Nordens. Doch seine Zeit als Schicki-Micki-Modearzt war längst abgelaufen. Die jungen, hübschen Touristinnen interessierten sich nicht mehr für ihn. Also war er vor einiger Zeit umgestiegen. Seine Praxis hatte er geschlossen, um als Rechtsmediziner an der Küste tätig zu sein. Das hatte gleich mehrere Vorteile. Von seinen Patienten bekam er keine Körbe mehr, sie quatschten auch nicht dumm rum, und seine Arbeitszeiten waren besser. Außer im akuten Fall teilte er sie sich einfach selber ein. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass er ein alter Sack war, auf den die Damen nicht mehr flogen. Also waren andere Prioritäten gesetzt worden. Enno genoss lieber einen schönen Wein bei gutem Essen und hatte ein Auge auf seine Schwägerin Lotti Esen geworfen. Klar, sie war kein knackiger Hüpfer mehr, aber durchaus amüsant, ziemlich intelligent und ließ ihn zappeln. Das liebte er. Heutzutage war es ihm wichtiger, sich in der Gegenwart einer besonderen Frau wohlzufühlen als die schnelle Nummer auf dem Schreibtisch im Arztzimmer. Ja, selbst er war mit den Jahren ruhiger geworden.

      Am Leichenfundort kam er genau im richtigen Moment an. Nele Freese stand etwas fassungslos vor dem Torso, der ihr soeben auf die Knie gekippt war. Vorsichtig rutschte sie rückwärts.

      „Na, was haben wir denn da?“, fragte Enno mit väterlicher Stimme. „Verbeugt sich da jemand vor dir?“

      „Nicht witzig“, erwiderte Nele. „Das war echt nicht schön. Ich wollte nur den Sand entfernen, um die ganze Leiche für dich freizulegen.“

      „Verstehe“, sagte Enno nach einem kurzen Blick auf das Unterteil der Büste, „fehlt wohl ein Stück, was? Also, dann lass mich mal ran. Ich schätze, du bist hier fertig. Wo ist denn Bodo?“

      „Kommt gleich“, antwortete Nele knapp.

      „Wär ganz gut, den Rest vor jemand anderem zu finden“, überlegte Enno laut.

      „Was du nicht sagst“, war Neles Kommentar. „Und wenn du mir jetzt auch noch erzählst wo, bin ich hin und weg.“

      Eike Hintermoser schaltete sich galant in das kleine Streitgespräch ein. „Ich hätte nicht übel Lust, den gesamten Strand zu sperren, aber wir hätten überhaupt nicht genug Leute, um den ganzen Sand umzugraben.“

      „Stell dir mal vor, du würdest hier alle wegschicken“, gab Niklas zu bedenken. „Was meinst du, was das für einen Tumult gäbe. Meiner Meinung nach ist das Absperren auch gar nicht möglich. Meerseitig käme man immer ran, wenn man wollte.“

      „Nun ja, man bräuchte zumindest etliche Kilometer Flatterband, wenn man nur den Sandbereich einkreisen wollte. Und wer sollte das bewachen?“, gab Enno zu bedenken.

      „Das stimmt natürlich, aber was ist, wenn einer der Touristen auf weitere Leichenteile stößt? Zum Beispiel ein Kind beim Buddeln?“, fragte Eike.

      Nele seufzte. „Wenn wir ehrlich sind, wissen wir, dass wir das sowieso nicht verhindern können. Ich glaube allerdings, dass das nicht passieren wird. Und wisst ihr auch warum?“

      „Nee“, antwortete Eike.

      Die anderen schüttelten den Kopf.

      „Ganz einfach“, fuhr sie weiter fort. „Der Kopf guckte doch eindeutig aus dem Sand heraus, damit man ihn findet. Also muss das Absicht gewesen sein. Er sollte auffallen. Man könnte doch davon ausgehen, dass der Mörder das auch mit dem Rest des Körpers gemacht hat. Warum sollte er den verstecken?“

      „Eine sehr mutige und zugleich fahrlässige Vermutung“, sagte Bodo Siebenstein plötzlich von hinten. Er hatte sich unbemerkt genähert und zugehört. „Eike hat recht, wir sperren weiträumig ab.“

      „Guck mal!“, zischte Rita, „jetzt ist der Siebenstein da. Ich bin gespannt, was jetzt passiert.“

      „Wenn du mich fragst, stehen die nur rum und labern“, ärgerte sich Oma Pusch leise. „Enno hat noch nicht mal die Büste untersucht. Was ist das nur für ein Saftladen? Da sind wir schon weiter.“

      „Achtung, Achtung“, dröhnte es mit einem Mal vom Deich her. „Bitte verlassen Sie augenblicklich das Strandgelände! Dies ist ein Polizeieinsatz. Der gesamte Bereich zwischen Deich und Wasser wird augenblicklich abgeriegelt.“

      „Das ist doch Krischan Hansen“, flüsterte Rita. „Wieso sperren die plötzlich alles? Und was ist mit uns?“

      „Rückzug, würde ich sagen und zwar schleunigst“, antwortete Oma Pusch.

      „Achtung, Achtung. Passen Sie auf Ihre Kinder auf. Ganze Abschnitte des Sandes sind verseucht. Es besteht Lebensgefahr“, fuhr Hansen fort. „Bei Zuwiderhandlungen wird ein Bußgeld von 300 Euro verhängt.“

      „Jetzt trägt er aber viel zu dick auf“, meinte Oma Pusch.

      Doch die Menschenmenge reagierte prompt. Familien rafften ihr Hab und Gut zusammen. Strandkorbmieter flohen über den gepflasterten Streifen am Meer, Kinder weinten und wurden von ihren Eltern fortgetragen. Nur Marga blieb wie angewurzelt stehen.

      „Wat is denn nu los? Hebbt se ook de Düvel seggen?“, fragte die Alte verblüfft.

      „Wir müssen ihr helfen“, sagte Rita. „Sie kapiert doch gar nicht, worum es hier geht.“

      „Und wie soll das unauffällig gehen?“, erkundigte sich Oma Pusch. „Ehrlich gesagt hab ich noch überhaupt keine Lösung, wie wir hier überhaupt unentdeckt wegkommen sollen. Es lichtet sich bereits. Zurück bleibt nur unser Zelt. Wir werden auffallen.“

      „Warte“, wisperte Rita und nestelte am Stoff ihres Verstecks herum.

      „Was machst du denn da?“, erkundigte sich Oma Pusch.

      „Das wirst du gleich sehen“, versprach Rita und riss den gesamten Boden heraus, teilte ihn und überreichte ihrer Freundin ein Dreieck.

      Oma Pusch verdrehte die Augen. „Nicht dein Ernst. Soll ich das etwa als Kopftuch aufsetzen?“

      „Klar, wir gehen im Partnerlook als Betreuerinnen von Marga ganz locker über die Strandpromenade zurück. Besser geht’s nicht!“, erklärte Rita.

      Wider Willen musste Oma Pusch zugeben, dass das eine geniale Idee gewesen war. Wieso hatte sie die nicht gehabt? Gemeinsam banden sie sich die Tücher um und mussten grinsen. Das sah echt bescheuert aus, denn es entstellte sie total.

      „Okay, dann stehen wir jetzt einfach auf und stülpen das Zelt über unsere Köpfe“, schlug Oma Pusch vor. „Anschließend haken wir Marga unter und schieben ab. Unser Versteck rollen wir ein und packen es in den Korb vom Rollator. Einverstanden?“

      „So machen wir das“, stimmte Rita zu.

      Niemand bekam die Verwandlung mit. Die Urlauber hatten sich bereits verstreut und befanden sich im Aufbruch. Niemand achtete auf ein Zelt, das plötzlich Beine bekam und verschwand.

      „Marga“, sprach Oma Pusch die Alte an, „büschen frische Luft schnappen?“

      „Nee, ihr lütten Deerns“, erwiderte sie.

      Der Einfachheit halber wird der folgende Dialog auf Hochdeutsch wiedergegeben. Marga spricht nämlich nur Platt.

      „Ich muss alles im Blick behalten. Der Teufel treibt hier wieder sein Unwesen“, erklärte sie den beiden Seniorinnen. In ihren Augen blieben die beiden immer kleine Mädchen. „Die Erde hat sich aufgetan“, berichtete sie weiter, „und einer