Bernd Leix

Hackschnitzel


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Jahr nicht so weiter, wie das alte aufgehört hat.«

      Traditionell machten die zwei Kriminalisten von Weihnachten bis zum Dreikönigstag Urlaub und waren nur bei Kapitalverbrechen erreichbar. Die ungeliebte Arbeit, ihre letztjährigen Ermittlungen zusammenzustellen, nahmen sie immer am ersten Arbeitstag des neuen Jahres in Angriff.

      Tradition war es auch, dass sie sich am späteren Nachmittag dieses Tages mit ihren engsten ›Verbündeten‹ zum gemeinsamen Kegeln trafen.

      Staatsanwalt Conradi gehörte zu diesem Kreis, Ludwig Willms, der Leiter der Kriminaltechnik und seit einigen Jahren auch Jan Sternberg, der dritte Mann in der Ermittlungsgruppe. Überraschenderweise war es Lindt nach langjährigem penetrantem Bohren doch gelungen, bei der Personalverwaltung die dringend notwendige, weitere Stelle für seine Abteilung zu bekommen. Technik- und Computerfreak Sternberg war dem erfahrenen Kommissar schon während der Ausbildungszeit sehr positiv aufgefallen und ergänzte das Team durch seine Spezialkenntnisse jetzt optimal.

      Das vergangene Jahr hatte zwar mehr Arbeit gebracht, insgesamt vier Morde und fünfzehn Mal Totschlag, wie die nüchternen Zahlen auf dem Monitor auswiesen, aber das Kommissariat konnte ganz stolz eine Aufklärungsquote von 100 Prozent vermelden. Meistens war schon von vornherein bekannt, wer die Taten begangen hatte, oder die Spuren zeigten ein so eindeutiges Bild, dass die Ermittler mit der Beweisführung nur wenig Mühe hatten.

      »Wir können unsere Arbeit wirklich vorzeigen«, lehnte sich Lindt zufrieden zurück und paffte dicke Rauchwolken in den Raum, nachdem er den Bericht abgeschlossen und über das polizeiinterne Datennetz an seinen direkten Vorgesetzten und die Pressestelle gemailt hatte.

      »Erstaunlich auch, wie ruhig die Feiertage verlaufen sind«, stimmte ihm Wellmann zu und erinnerte sich daran, dass sie schon öfter wegen weihnachtlichen Beziehungstragödien ihren Urlaub hatten unterbrechen müssen.

      »Freu dich nicht zu früh, Paul … du kannst sicher sein, der nächste dicke Fall kommt bestimmt!«

      Die Kegelrunden waren voll im Gang. Natürlich lag Ludwig Willms in Führung. Ehrensache für den durchtrainierten, hageren Sportler, die Kollegen stets deutlich zu übertrumpfen und wenn versehentlich seinem alten, aber etwas in die Breite gegangenen Freund Oskar mal ein guter Wurf gelang, quittierte er es nur mit: »Dusel, das war reiner Dusel!«

      Die anderen kannten den Ehrgeiz des Marathonläufers und nahmen ihn deswegen gerne auf die Schippe. Besonders, wenn Willms’ Kugel, was aber sehr selten vorkam, die Bande berührte, gab es johlendes Gelächter und schadenfrohe Kommentare.

      Manchmal ließ Lindt auch absichtlich beim Wurf seine Pfeife im Mund. Er wusste genau, dass Willms jedes Mal entsetzt das unsportliche Verhalten kommentieren würde und grinste nur erfreut darüber, dass es ihm wieder einmal gelungen war, einen verbohrten Sportler auf den Arm zu nehmen.

      Stimmung und Geräuschpegel steigerten sich stetig und fast hätte Oskar Lindt deshalb das schrille und immer lauter werdende Klingeln, das von der Garderobe herkam, überhört.

      »Ihr Handy, Chef«, meinte Jan Sternberg, der die Geräte seiner Kollegen problemlos am Ton unterscheiden konnte.

      »Carla wartet wohl schon auf dich«, witzelte Willms noch, doch dann verstummte die Unterhaltung schlagartig.

      Alle hatten die Gesprächsfetzen aus Lindts Telefonat mitbekommen.

      »Wie bitte, ein Finger, was, wo? Wir kommen sofort!«

      Der Hauptkommissar wandte sich wieder seinen Kegelbrüdern zu: »Man hat einen Finger gefunden.«

      Er machte eine bedeutungsschwere Pause.

      »Und den Rest auch.«

      Wieder eine Zäsur.

      »Gehackt!«

      Einige Sekunden lang herrschte völlige Stille im Raum, bis Paul Wellmann zögernd nachfragte: »Du meinst, jemand hat sich einen Finger abgehackt … beim Holzspalten oder so?«

      Doch insgeheim wusste er schon, dass er seinen Kollegen richtig verstanden hatte.

      »Nein«, antwortete Lindt tonlos und man konnte ihm förmlich ansehen, dass er gerade ein scheußliches Bild vor seinem inneren Auge hatte, »alles gehackt. Nur den Finger kann man noch erkennen.«

      »Da müssen wir wohl hin«, konstatierte Wellmann trocken und griff nach seiner Jacke. »Wo?«

      »Rheinstetten-Mörsch, auf einem Spielplatz!«

      Ein gespenstisches Szenario erwartete die drei Kripo-Beamten, als sie nach einer knappen Viertelstunde über die B 36 ihr Ziel erreicht hatten. Es war erst halb sechs Uhr, aber die frühe Dunkelheit des Januarabends machte eine komplette Ausleuchtung des Spielplatzes notwendig. Die örtliche Feuerwehr war mit zwei Rüstwagen im Einsatz und versorgte aus laut knatternden Stromaggregaten insgesamt sieben Flutlichtstrahler.

      Zahlreiche Schaulustige drängten sich hinter dem rot-weißen Plastikband, mit dem die Beamten des zuständigen Polizeireviers Ettlingen den Platz abgesperrt hatten.

      Beim Aussteigen schnappte Lindt einige Gesprächsfetzen aus der Menge auf: »… das muss man sich mal vorstellen …«, »… das arme Kind, so ein Schreck …«, »… und die Mutter erst … ist ja fast in Ohnmacht …«

      Ein langer schmaler Oberkommissar der Schutzpolizei mit korrekt gestutztem Schnauzbart steuerte auf die Kriminalisten zu, um kurz und knapp das Wesentliche zu berichten.

      Ein siebenjähriges Mädchen war von der Kettenschaukel gestürzt und bäuchlings weich im Häckselmaterial gelandet, das die Arbeiter des Städtischen Bauhofes am Vormittag ganz frisch unter den Spielgeräten ausgebracht hatten.

      Als es die Augen aufmachte, musste das Kind wohl unmittelbar auf einen menschlichen Finger geblickt haben, der vor ihm aus den Holzhackschnitzeln emporragte. Reflexartig war es stocksteif liegengeblieben und hatte schrill zu schreien begonnen.

      Der Uniformierte führte Lindt und Wellmann zur Schaukel, wo die Spurensicherung bereits am Werk war. »Nicht näherkommen, bitte«, rief einer der Beamten im weißen Overall. »Man sieht es auch vom Rasen aus. Da steckt der Finger und hier, da und dort der Rest. Alles, was rot ist.«

      Lindt beugte sich vor, um genauer zu sehen und ganz allmählich erkannte auch er zwischen den Holzstückchen die rötlichen Fremdkörper.

      »Und das da?« Der Kommissar zeigte auf eine Handvoll undefinierbarer Masse seitlich im Gras.

      Der Kriminaltechniker grinste: »Eine der Mütter hat wohl was angefasst und schlagartig gekotzt.«

      Panisch hatten dann alle Eltern ihre Kinder vom Spielplatz gezerrt.

      Zwei Polizeibeamte des örtlichen Postens waren zuerst eingetroffen. Pflichtgemäß wurde abgeriegelt und die eintreffende Kriminalbereitschaft unterrichtet.

      »Die Fotos sind fertig.« Schnell schob der Techniker den Finger in einen durchsichtigen Plastikbeutel und reichte ihn den wartenden Kommissaren.

      Lindt hob ihn hoch und drehte ihn ins Licht. Ohne Zweifel ein menschlicher Finger, allerdings nicht vollständig, sondern nur das erste und die Hälfte des zweiten Gliedes – dann Hautfetzen und ein spitz herausstechender Knochensplitter.

      »Auf jeden Fall nicht glatt abgetrennt«, waren sich die Kriminalisten einig.

      Lindt beobachtete aus einiger Entfernung, wie nach und nach immer mehr weiche, rötlich-weiße Gewebefetzen aus dem gehäckselten Holz aufgesammelt wurden.

      Paul Wellmann kam mit einem leitenden Mitarbeiter des Städtischen Bauamtes dazu, der eben eingetroffen war und über die Herkunft des Materials Auskunft geben sollte.

      »Ganz frisch alles«, beeilte sich der Tiefbau-Ingenieur zu versichern. »Unsere Bauhofmitarbeiter haben das Hackgut erst heute Vormittag ausgestreut. Wissen Sie, wegen der Unfallgefahr! Dass die Kinder wenigstens weich fallen. Sie glauben ja gar nicht, Herr Kommissar, wie schnell wir von der Stadt eine Klage am Hals haben, wenn sich mal eines beim Spielen den Kopf anschlägt. Die Eltern rennen heutzutage gleich zum Anwalt. Ich könnte ihnen erzählen