und zeigte nach vorne auf den Computermonitor: »Es gibt zwar im Kreis Karlsruhe momentan acht aktuelle Vermisstenfälle, aber ob von denen einer passt …? Das dürfte schwierig werden.«
»… nach den bisherigen Erkenntnissen ist ein Unfall zwar theoretisch denkbar, aber ein Gewaltverbrechen für uns sehr viel wahrscheinlicher«, verkündete Oberstaatsanwalt Wolf bei der Pressekonferenz am späten Nachmittag.
Es war unumgänglich geworden, die Öffentlichkeit zu unterrichten, denn der Fingerfund hatte sich in Rheinstetten wie ein Lauffeuer herumgesprochen und das Großaufgebot der verschiedensten Polizeieinheiten tat ein Übriges, die Gerüchteküche anzuheizen.
Sogar ein privater Fernsehsender war erschienen und hatte Mutter und Kind vor der Kulisse des Spielplatzes und der dort arbeitenden Kriminaltechniker gefilmt. Das Mädchen werde von einem ortsansässigen Psychotherapeuten intensiv betreut, um sein Trauma zu verarbeiten, hatte es im TV-Bericht geheißen.
Was Oskar Lindt von so viel öffentlicher Schaumschlägerei hielt, konnte man unschwer an seinem Gesicht ablesen, aber er gab vor den hungrigen Journalisten dazu lieber keinen Kommentar ab. Die Macht der Medien hasste er, wusste aber auch, dass er auf Tipps aus der Bevölkerung angewiesen war.
»Die Auswertung der Ergebnisse von Spurensicherung und Kriminaltechnik wird noch mehrere Tage dauern«, informierte Ludwig Willms die Presse über den Stand der Untersuchungen in seiner Abteilung und Hauptkommissar Lindt appellierte mit eindringlichem Tonfall: »… sachdienliche Hinweise bitte direkt an uns oder jede andere Polizeidienststelle. Wir gehen allen Spuren nach.«
Die Karlsruher KTU arbeitete zusammen mit den Spezialisten des Landeskriminalamtes unter Hochdruck. Wie ein riesiges Puzzlespiel sortierten vier Gerichtsmediziner in einem taghell erleuchteten Saal auf acht langen Edelstahltischen die wenig appetitlichen Fundstücke, die sie von der Spurensicherung geliefert bekamen. Am ergiebigsten hatte sich der Inhalt des Containers erwiesen, der in zweitägiger Kleinarbeit regelrecht durchgesiebt worden war. Nach und nach wurden von den Kriminaltechnikern insgesamt sechs Kubikmeter Holzhackschnitzel Schaufel für Schaufel auf mehreren, herbeigeschafften Tapeziertischen ausgebreitet und sortiert. Makabere Sprüche wie: »Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen« machten dabei die Runde, wenn sich wieder ein harmlos aussehendes Holzstückchen doch als Knochenfragment von menschlicher Schädeldecke oder Beckenschaufel erwies. Von weitem schon zu erkennen waren die weichen, lappigen Reste der inneren Organe, die der Hackscheibe nicht so viel Widerstand geboten hatten und deshalb weniger stark zerkleinert worden waren. Ein Teil des Dünndarms mit vierundzwanzig Zentimetern Länge war das größte Fundstück. Muskeln und vor allem Knochen waren dagegen auf höchstens fünf Zentimeter zerhackt worden. Fast unversehrt fanden sich neben dem Fingerteil vom Spielplatz noch drei Fingerkuppen, vier Zehen und sechs Zähne.
Gerade davon versprachen sich die Pathologen viel, denn vier wiesen Gold-Inlays auf. Das daraus rekonstruierte Zahnschema wurde zusammen mit hochauflösenden Digitalfotos an über hundertachtzig Zahnärzte in der Region Karlsruhe gemailt und auch als Download ins Internet gestellt.
Weitere körperfremde Metallteile oder Bruchstücke von Schmuck? Fehlanzeige!
Die Abdrücke der Finger ergaben zwar leidlich gute Ergebnisse, aber nach Abgleich mit den Datenbanken war keine Übereinstimmung mit registrierten Personen zu finden.
Die Untersuchungen des möglichen Tatorts und des Großhackers führten auch nicht weiter. Zwar gab es in Führerhaus und Krankabine Fingerabdrücke, die nicht zum Maschinist oder anderen Firmenangehörigen passten, aber keiner der Abdrücke war irgendwo gespeichert.
Schließlich lieferte das LKA nach vier Tagen auch die Ergebnisse der DNA-Untersuchung.
»Leider nichts Konkretes«, zuckte Ludwig Willms
mit den Schultern, als er die Resultate an Lindt und sein Team weitergab. »Wir können nur ein wenig eingrenzen: Alle Proben stammen von einer einzigen Person, männlich, hellhäutig, Haare blond mit Übergang zu grau, daher ganz grob im mittleren Alter. Leider ist der Erbgut-Code in keiner Datenbank gespeichert, also können wir die Person auf diesem Wege nicht identifizieren.«
»Aber ausschließen, ob es sich um eine der vermissten Personen handelt, könnten wir vielleicht«, hatte Jan Sternberg eine Idee. »Wenn wir zum Beispiel die Zahnbürsten dieser Leute untersuchen würden oder die Haare aus ihren Kämmen …«
Mit wenig begeistertem Gesichtsausdruck drehte sich Willms zu Lindt und wollte einen Kommentar über die Kosten und Zeitdauer einer derartigen Aktion abgeben, doch der Kommissar kam ihm flugs zuvor: »Immer die besten Ideen, unser Nachwuchs, meinst du nicht auch, Ludwig?«
»Na gut«, knurrte der, »aber fangt mal mit den Vermissten im näheren Umkreis an, dass es nicht gleich so viele werden. Ich sag solange in Stuttgart Bescheid.«
Der KTU-Chef war schon an der Tür, da fiel ihm noch etwas ein: »Halt, die Faserspuren, die hätte ich ja fast vergessen.«
»Faserspuren?«, fragten Wellmann und Sternberg wie aus einem Mund.
»Natürlich, Reste der Kleider. Oder glaubt ihr, der Mann war nackt, als er gehäckselt wurde?«
»Auf das Naheliegendste sind wir noch gar nicht gekommen«, musste auch Lindt zugeben. »Die ganze Zeit diskutieren wir hier über Darmfetzen und Kniescheibenfragmente, Leberhack und Lungenbläschen, aber an die Kleider hat tatsächlich noch niemand gedacht.«
»Deshalb habt ihr ja uns«, antwortete Willms mit einem Gesichtsausdruck, der die Freude widerspiegelte, diesmal der eingespielten Ermittlertruppe eine Nasenlänge voraus zu sein.
»Also«, fuhr er etwas theatralisch fort, »wir hätten da folgendes im Angebot: Schweizer Unterwäsche, reine Baumwolle, in weißer Oxford-Qualität als Oberhemd, Edel-Denim bei der schwarzen Hose, Alpakawolle für die Socken, ein genauso nobler Wollstoff für das Sakko und schwarzes Rindsleder von den Schuhen. Budapester Form übrigens, ein Stück der oberen Ziernähte ist vollständig erhalten.«
»Wie wäre es denn mit den Fabrikaten?«, stichelte Jan Sternberg etwas vorlaut.
»Kein Problem«, kam gleich die Retourkutsche. »Falls euch Calida und Bogner etwas sagen, dann wisst ihr über die Preisregion Bescheid. Von Hemd und Jackett konnten wir leider nichts finden, aber die Schuhe sind rahmengenäht und bestimmt nicht unter dreihundert Euro zu haben.«
Lindt pfiff leise durch die Zähne: »Also im Milieu der Obdachlosen brauchen wir wohl nicht zu suchen.«
»Und bei allzu großen Größen vermutlich auch nicht«, schielte Willms auf die etwas vollschlanke Figur des Kommissars. »Einen Gürtel musste der Mann jedenfalls nicht tragen. Seine Hüftknochen haben wohl weit genug herausgeschaut, um die teure Jeans zu halten.«
»Immerhin brauche ich noch keine Hosenträger«, verteidigte sich Lindt mit gespielter Schmollmiene.
»Noch nicht, mein Lieber! Nächste Weihnachten legt Carla dir bestimmt welche unter den Christbaum.«
Lindt machte sich nichts aus den kleinen Sticheleien des hageren Extremsportlers und revanchierte sich ab und zu mit spitzen Bemerkungen über Sportverletzungen und abgenutzte Kniegelenke.
»Jetzt aber zurück zu unserem Hacker-Opfer«, mischte sich Paul Wellmann ein. »Wenn ich recht verstanden habe, war es ein Mann mittleren Alters, gute Kleidung lässt auf passable finanzielle Verhältnisse schließen und eine sportliche Figur scheint er auch gehabt zu haben.«
»Stimmt genau, die Gerichtsmedizin schreibt hier von sehr wenig Körperfett.«
»Jetzt reicht’s aber«, entrüstete sich Lindt. »Wahrscheinlich auch so ein hyperaktiver Triathlet wie du.«
»Aber Oskar, du musst nicht jede Bemerkung persönlich nehmen. Außerdem sind die Schlanken meist ausgeglichener und gehen nicht so schnell an die Decke«, grinste Willms über den Erfolg seines kleinen Seitenhiebes.
Der Kommissar schnaufte tief durch und blies zur Beruhigung ein paar dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife in den Raum.
»Passt denn so ein Profil auf einen der Vermissten?«,