Peter Glanninger

Finsterdorf


Скачать книгу

      »Wo können wir diese Schächter finden?«, mischte sich Radek wieder ein.

      »Die arbeitet beim Lenkstein im Büro. Ich glaub, sie wohnt noch bei ihren Eltern in der Hinterau.«

      »Hinterau ist eine Siedlung ein bisschen außerhalb, in Richtung Hollenstein«, erklärte Steiger dem ortsunkundigen Radek.

      »War’s das? Mehr weiß ich sowieso nicht.«

      Radek hatte nichts anderes erwartet. Für den Wirt jedenfalls schien die Sache erledigt zu sein, denn ohne auf eine Antwort der Polizisten zu warten, drehte er sich um und ging zurück hinter die Theke.

      »Und jetzt?«, fragte Steiger.

      »Jetzt fahren wir zu Lenkstein und schauen uns diese Schächter an.«

      Als die beiden Polizisten gegangen waren, schnappte sich Falk sein Handy und ging durch die Hintertür in den Hof hinaus. Vorsichtig blickte er sich um, ob ihn jemand beobachtete. Als er sicher war, allein zu sein, drückte er eine Kurzwahltaste und wartete, bis am anderen Ende abgehoben wurde.

      Er knallte sein Telefon voller Zorn über den langen Tisch, der in der Mitte des Saales stand und für gesellschaftliche Zusammenkünfte diente. Wäre Christian Steininger nicht rechtzeitig herbeigeeilt, um die rasante Fahrt des Geräts zu beenden, wäre das dünne Smartphone über die Tischkante hinweggeschossen und auf dem Steinboden zerschellt.

      Steininger kannte seinen Arbeitgeber und dessen jähzorniges Wesen allzu gut. Dafür wurde er bezahlt, hervorragend bezahlt. Er hatte an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert, seinen Bachelor in Betriebswirtschaft und einen Master in Management gemacht. Danach hatte er einige Zeit in der Zentrale von Möbel Haindl in Linz gearbeitet. Dort war er für das Wareneingangs- und Produktionsmanagement verantwortlich gewesen. Bei einer seiner Verhandlungen mit einer Zulieferfirma war er an Leopold Lenkstein geraten, der ihn nach drei Verhandlungsrunden abgeworben und seinen eigenen Key-Account-Manager in die Wüste geschickt hatte. Es komme ihn billiger, Steininger zu kaufen, als ihn weiterhin auf der anderen Seite des Verhandlungstisches sitzen zu haben, hatte Lenkstein seine Personalmaßnahme begründet. Das Gehalt, das er Steininger anbot, hatte jeden Zweifel über einen Jobwechsel zerstreut. Innerhalb eines halben Jahres war Steininger in Lenksteins Betrieb zum Verkaufsleiter aufgestiegen, und ein Jahr später hatte Lenkstein ihn zum persönlichen Counsellor gemacht. Seit vier Jahren war er nun bei Lenkstein und bereute keinen einzigen Tag davon. Er hatte nicht nur ein überdurchschnittlich hohes Gehalt, sondern auch andere Annehmlichkeiten, die ihm kein Großkonzern bieten konnte. Er war kein Assistent, kein Consultant, kein Unternehmensberater, sondern erfüllte Funktionen, die weit darüber hinausgingen. Stei­ninger kümmerte sich etwa darum, dass der Baron seinen Geschäften nachgehen konnte, bereitete die wichtigsten Termine vor und legte gemeinsam mit ihm die Strategien dafür fest. Häufig führte er auch selbst die Verhandlungen. Der Baron bevorzugte es, seine Geschäfte von der Burg aus zu lenken, anstatt in seinem Büro unten im Werk zu sitzen. Dort war Steininger Lenksteins rechte Hand und leitete die Firma, wenn der Baron Besseres zu tun hatte. Ein Prokurist ohne Prokura, obwohl er das seinem Chef gegenüber so nie ausdrücken würde.

      Schon während des Telefonats war Lenkstein erregt aufgesprungen und mit langen Schritten im Rittersaal herumgelaufen. Jetzt stand er an einem der großen spitzbögigen Fenster und starrte zornig hinunter in das Dorf zu Füßen der Burg.

      »Schlechte Nachrichten, Herr Baron?«, fragte Steininger mit gedämpfter Stimme.

      »Unten im Dorf schnüffeln die Bullen herum«, fauchte Lenkstein, wirbelte herum und kam mit schnellen Schritten zu Steininger.

      Zum Glück befindet sich der Tisch zwischen uns, dachte Steininger.

      »Können Sie sich das vorstellen?« Lenkstein kochte vor Wut. »Die spionieren im Dorf!«, schrie er. »Ungefragt! In meinem Dorf! Die sollen sich nach Gresten scheren oder sonst wohin und sich dort um ihre Hühnerdiebe kümmern und ihren Arsch nur hierher bewegen, wenn wir sie holen!«

      Er nahm seine Wanderung durch den Rittersaal wieder auf. Die Hände hinter dem Rücken, leicht nach vorne gebeugt und wütend vor sich hin stierend. Er trug eine knielange Trachtenlederhose, dunkelgrüne Wollsocken und halbhohe Schnürschuhe, ein weißes Hemd, darüber ein dunkelgraues Leinengilet mit Kragenrevers. Der Schal um den Hals war ihm zuvor wie das Tüpfelchen auf dem I vorgekommen, nun aber schien er ihn unerträglich zu beengen. Voller Zorn riss er ihn herunter und schleuderte ihn im Vorbeigehen in eine Ecke des Saals. Sein rundes Gesicht leuchtete vor Aufregung und bildete einen unangenehmen Kontrast zum halblangen dunklen Haar, von dem ihm einige Strähnen wirr in die Stirn hingen.

      Lenkstein war Mitte 40, von kräftiger Statur und hatte einen kleinen Bierbauch, den er nicht zu verbergen versuchte. Er war ein Genussmensch, der Bauch das nach außen hin sichtbare Zeichen dafür.

      »Wissen Sie auch, weswegen die Polizisten hier sind?« Steininger formulierte seine Frage vorsichtig. Im Gegensatz zu seinem Arbeitgeber war er beinahe schmächtig und in einen dezenten Trachtenanzug gekleidet.

      »Wegen der kleinen Lindner!«, schrie Lenkstein. »Wegen dieser verfickten Schlampe. Wegen der laufen sie herum und stellen blöde Fragen. Ob irgendwer etwas darüber weiß, warum sie verschwunden ist und wo sie war. Solche Scheiße halt!«

      Steininger zog es vor, den Mund zu halten. Sollte sein Chef erst einmal Dampf ablassen, dann würde man vernünftig mit ihm reden und geeignete Maßnahmen überlegen können. Das war ein bewährtes Vorgehen.

      »Was geht die das an?«, begann Lenkstein wieder zu toben. »Das ist unser Problem. Die Lindner gehört zu uns ins Dorf und wir kümmern uns selbst um solche Sachen. Dafür brauchen wir keine beschissenen Bullen.«

      Steininger betrachtete seinen Arbeitgeber mit der Achtsamkeit eines Dompteurs, der sich mit einem Tiger in der Manege befand, im Bewusstsein, die Situation im Griff zu haben, aber auch mit der Gewissheit, dass die Raubkatze ihn jederzeit zerfetzte, wenn er einen Fehler machte. Leopold Freiherr von Lenkstein zu Friedheim, so würde der volle Name seines Chefs lauten, wären die Adelstitel nicht nach dem Ersten Weltkrieg abgeschafft worden. Doch der Titel allein macht keinen Feudalherren, dachte Steininger und fragte sich, mit welch harter Hand die Lenksteins wohl vor 100 oder 200 Jahren über ihre Ländereien geherrscht hatten.

      »Am liebsten würde ich ins Dorf fahren und sie rausprügeln«, erboste sich Lenkstein abermals.

      Steininger merkte jedoch, dass die Wut bereits am Verrauchen war. »Das wird leider nicht möglich sein, Herr Baron. Wir haben um 15 Uhr einen Termin mit dem Bürgermeister von Amstetten.«

      »Ich weiß, ich weiß.« Unwirsch winkte Lenkstein mit den Händen. »Außerdem sind die Zeiten vorbei, wo man so etwas ungestraft tun durfte. Leider. Aber die Bullen haben sich hier nicht einzumischen. Das habe ich dem alten Hager schon oft gesagt.« Noch einmal ergriff die Erregung Besitz von ihm: »Ich bin doch nicht irgendein Arschloch, das gegen eine Wand redet. Ich bin Baron von Lenkstein. Man gehorcht mir, wenn ich etwas sage.« Er trat zum Tisch und schlug mit der Faust darauf, um seine Wut abzureagieren. »Und wenn sich jemand unaufgefordert in Angelegenheiten einmischt, die in meinem Dorf passieren, dann beleidigt er mich höchstpersönlich. Das werde ich mir nicht gefallen lassen.« Erneut lief er wie ein gereiztes Tier auf und ab.

      »Vielleicht sollten wir feststellen, was die Polizisten tatsächlich wollen«, begann Steininger die Situation zu analysieren. »Vermutlich müssen die das tun. Möglicherweise ist es nur eine Routineuntersuchung, die schnell beendet ist, und wahrscheinlich sind sie in ein paar Tagen ohnehin wieder weg. Wie die Polizisten, die schon einmal das Verschwinden der Lindner untersucht haben. Die sind auch nach ein paar Tagen wieder abgehauen. Dann kehrt alles zur gewohnten Normalität zurück. Also, wenn wir jetzt schon beim Bezirkspolizeikommandanten anrufen, wirbeln wir voraussichtlich mehr Staub auf, als diese Sache wert ist.«

      Lenkstein hielt inne und betrachtete Steininger mit einem Blick, den dieser nicht zu deuten wusste, doch dann entspannte er sich. »Ach, Steininger. Was täte ich ohne Sie. Natürlich haben Sie wieder einmal recht. Wer weiß, was diese uniformierten Idioten da unten im Dorf tatsächlich treiben. Sorgen Sie dafür, dass irgendwer diese Komiker zu mir heraufschickt. Und dann holen Sie den Wagen,