Haus, in dem die Lindners wohnten, mochte zehn oder fünfzehn Jahre alt sein und befand sich in einer Sackgasse, an der sich links und rechts Einfamilienhäuser auffädelten. Lediglich das erste Grundstück an der Ecke zur Hauptstraße war unbebaut.
»Ich würde gerne zuerst mit dem Mädchen sprechen«, erklärte Radek, als Steiger den Streifenwagen vor dem Haus parkte.
»In Ordnung, lass mich das mit der Mutter aushandeln.«
Sie läutete. Wenige Augenblicke später hörten sie ein Summen und die Gartentür sprang auf. Die beiden Polizisten gingen durch einen gepflegten Vorgarten, die Haustür wurde von einer Frau Anfang 40 in Jeans und einem weiten Sweatshirt geöffnet.
»Guten Tag, Frau Lindner«, grüßte Susi Steiger. »Ich war vor zwei Wochen schon einmal wegen Bernadette hier.«
»Ich weiß.« Misstrauisch musterte Frau Lindner zuerst die Uniformierte und dann Radek, der mit Sakko und Jeans zwar nicht allzu amtlich aussah, aber allem Anschein nach auch Polizist war.
»Das ist Gruppeninspektor Radek«, stellte Steiger ihren Begleiter vor. »Er kommt aus Sankt Pölten.«
Das schien die Lindner nicht zu beeindrucken. »Was wollen Sie?«
»Wir würden gerne noch einmal mit Bernadette reden«, erklärte die Polizistin.
»Warum?«
»Wegen der Zeit, in der sie abgängig war.«
»Weshalb?«, fragte Frau Lindner. »Darüber haben Sie doch schon mit ihr gesprochen.«
»Frau Lindner«, mischte sich Radek ein. »Ihre Tochter ist minderjährig. Daher müssen wir im Falle einer Abgängigkeit überprüfen, wo sie sich in dieser Zeit aufgehalten und was sie getan hat. Häufig verüben abgängige Jugendliche unterschiedliche Delikte in Form von Beschaffungskriminalität. Das beginnt bei kleinen Diebstählen und reicht bis zu illegaler Prostitution oder Suchtgiftmissbrauch. Und nachdem Ihre Tochter gesagt hat, sie sei in Wien gewesen, müssen wir dem nachgehen.«
Radek gab sich einen amtlichen Anstrich. Außerdem wollte er damit erklären, warum er aus Sankt Pölten hierhergekommen war, denn er hatte nicht vor, der Mutter zu erzählen, was er beim LKA machte.
Das Misstrauen war noch nicht verschwunden, aber zumindest der Widerstand etwas aufgeweicht. Frau Lindner bat die beiden Polizisten ins Haus. »Muss das sein? Warum können Sie uns nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Weil noch einige Fragen offen sind und wir dazu erheben müssen«, antwortete Radek ruhig.
»Welche Fragen?« Frau Lindner wurde ungeduldig.
»Zum Beispiel, wo Bernadette gewesen ist, wovon sie gelebt hat, mit wem sie unterwegs war und so weiter.«
Die Frau schüttelte unwillig den Kopf, führte die beiden Polizisten dennoch über eine Treppe in den ersten Stock und klopfte dort sanft an eine Tür. »Bernadette, zwei Leute von der Polizei sind da.« Die Mutter sprach leise, als hätte sie Angst, die Tochter zu wecken. Vorsichtig öffnete sie die Tür.
Bernadette Lindner saß auf ihrem Bett in der Ecke an die Wand gelehnt. Die Knie hielt sie mit ihren Armen fest umschlungen. Sie trug eine Jogginghose und ein Sweatshirt, die dunklen Haare hingen ihr in wirren Strähnen ins Gesicht. Es schien, als würde sie die Besucher an der Tür gar nicht bemerken, zumindest blickte sie nicht auf, sondern starrte vor sich hin.
»So sitzt sie den ganzen Tag da«, sagte die Mutter und musste gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. »Und nachts lässt sie das Licht brennen. Wenn ich es abdrehe, beginnt sie zu schreien.«
Als sie in den Raum traten, erschrak das Mädchen. Mit panischem Blick huschten ihre Augen von einem zum anderen. Als sie die Mutter erkannte, schien sich ihre Furcht zu legen, und sie beruhigte sich wieder.
Radek setzte sich zu ihr aufs Bett, Steiger und die Mutter hielten sich im Hintergrund.
»Bernadette«, sagte Radek und fragte nach: »Ich darf doch Bernadette sagen?«
Sie nickte.
»Ich bin Thomas Radek von der Polizei in Sankt Pölten.« Er sprach ruhig und behutsam, als könnte sie davonlaufen, wenn er zu unwirsch mit ihr umging. »Ich bin hier, weil ich dir einige Fragen stellen muss.«
Bernadette sagte kein Wort. Sie wartete darauf, dass er weitersprach.
»Du bist eine Woche abgängig gewesen. Wir würden gerne wissen, wo du warst.«
Sie schaute ihn verwirrt an, als wäre sie erstaunt darüber, dass er es nicht wusste. Dann flüsterte sie: »Beim Teufel. Ich bin beim Teufel gewesen. Und wenn ich ihm nicht gehorche, wird er mich wieder holen. Und euch auch, euch auch. Alle wird er holen.«
Das kam so wahrhaftig und überzeugt, dass es Radek beinahe die Sprache verschlug. »Was meinst du damit?«
»Das, was ich gesagt habe.«
»Und wo ist dieser Teufel?«
»Nicht in der Hölle.« Sie lachte plötzlich. »Glauben Sie nicht alles, was Sie über den Teufel hören.«
»Bernadette, können wir die Sache jetzt ernsthaft angehen?« Radek wurde ungeduldig, er hatte keine Lust, sich von dem Mädchen verarschen zu lassen.
»Ich bin ernsthaft.«
»In Ordnung, dann sag mir bitte, wo du gewesen bist.«
»Unterwegs.«
»Und wo warst du unterwegs? In Amstetten, in Sankt Pölten, in Wien oder woanders?«
»In Wien.«
»In Wien?«
Sie nickte.
»Und wo in Wien?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Bist du die ganze Zeit über in Wien gewesen? Also die ganze Woche?«
Sie überlegte. »Nein, auch in Sankt Pölten.«
»Und wo in Sankt Pölten?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Bist du allein gewesen?«
»Nein.«
»Mit wem warst du zusammen?«
Bernadette warf ihm einen Blick zu, als hätte er eine unmögliche Frage gestellt. »Keine Ahnung«, antwortete sie, »ich habe die Leute nicht gekannt.«
»Was hast du die ganze Woche über gemacht?« Noch einmal versuchte Radek, eine brauchbare Erklärung aus ihr herauszubekommen.
Sie flüsterte: »Ich war beim Teufel. Weil, der Teufel ist unter uns, ich hab ihn gesehen. Geben Sie acht!«
Radek musste sich zusammenreißen, um seinen Ärger nicht zu zeigen. »Möchtest du mir etwas über den Teufel erzählen?«, fragte er und bemühte sich dabei um einen verständnisvollen Ton.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das darf ich nicht.«
»Erzählst du mir dann etwas über die Leute, mit denen du unterwegs warst?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nichts über sie.«
»Was heißt, du weißt nichts? War es ein Mann oder eine Frau, einer oder mehrere?«
»Mehrere, einige Männer und einige Frauen.«
»Wie viel?«
»Das war unterschiedlich, manchmal zwei, manchmal drei.«
»In Sankt Pölten?«
»Ja.«
»Und in Wien?«
»Da auch.«
»Wann bist du in Wien gewesen und wann in Sankt Pölten?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Warst du zuerst in Sankt Pölten und dann in Wien, oder