Peter Glanninger

Finsterdorf


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Karin. »Alle Finger und die Knöchel.« Sie zeigte an ihrer rechten Hand, von welchen Bereichen sie sprach.

      »Der arme Kerl. Wie ist das passiert?« Gabis Bedauern war aufrichtig. Beide kannten Klaus Höger sehr gut. Er war einer von Gabis Verehrern gewesen, die ihr im Dorf den Hof gemacht hatten. Einmal war sie mit ihm im Bett gewesen, aber dann hatte sie sich für einen anderen entschieden. Klaus hatte ihr das nie nachgetragen und sie waren immer noch gute Freunde. Die Affäre war ihr Geheimnis geblieben, nicht einmal mit Karin hatte sie darüber gesprochen.

      »Er hat nicht aufgepasst. Angeblich ist er auf der Terrasse gestürzt und ein großer Keramiktopf mit einer Hortensie ist ihm auf die Hand gefallen.«

      »Angeblich.«

      »Ja, angeblich.«

      Beide wussten, dass etwas ganz anderes geschehen sein musste.

      Gabi ahnte, was passiert war. Es war nicht das erste Mal. Die Leute im Dorf verletzten sich häufig, brachen sich den Arm oder die Hände oder die Finger. Es gab Gerüchte darüber. Das kam davon, dass sie unachtsam waren, sagte man, und es stimmte, im übertragenen Sinn. Es war nicht gut, im Dorf leichtsinnig zu sein.

      »Man muss aufpassen hier im Ort«, sagte Gabi und blickte sich wachsam um.

      »Nur nicht viel fragen«, bekräftigte Karin.

      »Und sich nirgends einmischen.«

      »Dann stolpert man nicht und bleibt gesund.«

      »Ja, dann kann einem nicht so schnell etwas passieren.«

      Karin beobachte den Fremden gegenüber auf der Terrasse des Gasthofs »Falk«. »Kennst du den dort?«, fragte sie ihre Freundin und deutete unmerklich mit dem Kopf in die Richtung des Gasthauses. Gabi folgte ihrem Blick. Dort saß der Unbekannte auf der Terrasse und beobachtete sie. Als er merkte, dass die Frauen zu ihm hinübersahen, wandte er sich ab und trank von seinem Bier.

      »Nein, das ist wahrscheinlich ein Gast beim Falk.«

      »Der ist gestern schon da gesessen«, stellte Karin mit leichtem Unbehagen in der Stimme fest.

      »Der wird ein verspäteter Sommerfrischler sein.«

      »Hoffentlich. Möglicherweise ist er auch aus einem anderen Grund hier.«

      »Möglicherweise.«

      »Ein komischer Typ, sitzt auf der Terrasse vorm ›Falk‹ und beobachtet die Leute.«

      Jetzt fühlte sich auch Gabi zusehends unbehaglich und sie blickte sich misstrauisch um. »Hast du Lust, mit zu mir auf einen Kaffee zu kommen?«, lud sie ihre Freundin ein. »Karl ist nicht zu Hause«, fügte sie rasch hinzu, obwohl sie wusste, dass ihr Mann und Karin sich gut verstanden.

      »Ja, gehen wir zu dir. Da sind wir ungestört.«

      Sie bummelten betont gelassen davon. Sie hatten Zeit. Es waren nur wenige Minuten bis zu Gabis Haus.

      12.

      Als Radek sein Bier ausgetrunken hatte, ging er ins Zimmer hinauf, duschte, legte sich ins Bett und las in einem Roman, bis ihm die Augen zufielen. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, war er nach der fünfstündigen Wanderung rechtschaffen müde. Er schlief über eine Stunde und fühlte sich danach wieder einigermaßen frisch und unternehmungslustig. Es war halb sechs und er überlegte, was er an diesem Abend machen sollte. Er wollte nicht wieder in der Stube vom »Falk« sitzen und entschied, sich das zweite Lokal in Schandau anzusehen. Das Gasthaus »Zur Linde« am anderen Ende des Hauptplatzes.

      Er zog sich um und ging hinaus, es war immer noch mild und angenehm. Trotz des lauen Abends war niemand auf der Straße unterwegs. Als Radek auffiel, dass er ganz allein auf dem leeren Hauptplatz stand, fühlte er sich mit einem Mal sehr unbehaglich und dieser Ort erschien ihm nicht mehr so idyllisch, so klein und beschaulich wie am Tag seiner Ankunft.

      Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Als er auf der Höhe des Rathauses angekommen war, fiel ihm in der Mitte des Platzes, dort, wo eine Grünfläche mit Bäumen und Bänken zum Sitzen einlud, eine bescheiden wirkende Säule auf. Er überquerte die Straße und ging zu der Säule, die auf einem quadratischen Steinsockel in einem fünf Meter großen, gepflasterten Kreis stand. Sie war aus Stein, etwa dreieinhalb Meter hoch und hatte einen Eisenreifen und zwei große eiserne Ringe am oberen Ende. »Dieser original erhaltene Pranger wurde um das Jahr 1300 errichtet und diente bis Anfang des 19. Jahrhunderts zum Vollzug von Ehr- und Schandstrafen«, las Radek auf einer kleinen Tafel, die am Fuße des Prangers in die Pflastersteine eingelassen war. Der Historiker in ihm erwachte. Das also war die Sehenswürdigkeit, von der er gelesen hatte. Es war das erste Mal, dass Radek einen mittelalterlichen Pranger sah, zumindest bewusst. Er umrundete ihn, stellte fest, dass er ein sehr unspektakuläres, deshalb aber nicht weniger beeindruckendes Zeugnis der Vergangenheit darstellte, und setzte seinen Weg fort.

      Das Gasthaus »Zur Linde« lag dem Gasthaus »Falk« genau gegenüber. Das Haus musste älter sein, es wirkte mittelalterlich. Der Eingang war gedrungen, eine massive Holztür schien die Gäste eher aussperren als einlassen zu wollen. Das Gastzimmer war ein alter niedriger Raum mit einem Kreuzgewölbe, wie Radek es nur aus sehr alten Häusern kannte. Die Einrichtung schien ihm ebenso antiquiert wie das gesamte Gasthaus.

      Es saßen wenig Gäste an den Tischen, einige Männer standen an der Theke. Als Radek das Lokal betrat, verstummten die meisten Gespräche und die Blicke der Anwesenden wandten sich ihm zu. Eine Sekunde lang herrschte eisiges Schweigen, eine Stimmung, die Radek so intensiv empfand, dass er in der Tür stehen blieb und einen Augenblick lang überlegte, ob er nicht doch zurück ins Gasthaus »Falk« gehen sollte. Er überwand aber diesen Moment des Zögerns, verwarf ihn als lächerlich, sagte laut »Guten Tag«, als wollte er böse Geister vertreiben, und suchte sich einen leeren Tisch.

      Niemand erwiderte seinen Gruß. Radek konnte regelrecht spüren, wie ihm die Blicke der Gäste folgten. Er wählte einen Patz, von dem aus er beinahe das ganze Lokal überblicken konnte. Als er nun seinerseits die Gäste betrachtete, sahen sie schnell weg und setzten ihre unterbrochenen Gespräche fort. Allerdings leiser und gedämpfter, und ihm entging nicht, dass sie ihn immer wieder misstrauisch beobachteten.

      Radek hatte kein Buch dabei, da er nur etwas essen und dann zurückgehen wollte. Die Wanderung steckte ihm in den Knochen, er musste morgen arbeiten und hatte nicht vor, sich die halbe Nacht um die Ohren zu schlagen.

      Ein Mann um die 50 mit weißer Schürze, Radek vermutete, dass es der Wirt war, brachte ihm eine Speisekarte. Radek bestellte zunächst ein Bier und, als der Wirt ihm das Glas brachte, ein deftiges Abendessen. Er hatte Hunger.

      »Sind Sie auf der Durchreise?«, fragte der Wirt, während er Radeks Bestellung entgegennahm und für die Küche notierte.

      »Nein, eigentlich nicht.«

      Der Wirt nickte verstehend. »Das heißt, Sie bleiben länger?«

      »Mindestens bis Dienstag, so ist es geplant.«

      »Haben Sie ein Zimmer im Ort?«

      »Ja, drüben im Gasthaus ›Falk‹«, antwortete Radek, und einen Augenblick lang glaubte er, alle Ohren wären nur auf sein Gespräch mit dem Wirt gerichtet.

      »Ah, beim Falk. Gefällt es Ihnen dort?«

      »Es geht. Ein nettes Landgasthaus.« Radek wurde vorsichtig. Er wusste nicht, welche Beziehung zwischen den beiden Gasthäusern bestand. Lobte er die Konkurrenz zu laut, mochte der Wirt beleidigt sein. Vielleicht aber waren die Wirtsleute Freunde, und wenn er sich herablassend äußerte, war es gut möglich, dass Falk von Radeks Kritik wusste, bevor er zurück war.

      »Haben Sie versucht, woanders ein Zimmer zu bekommen?«

      »Im Internet habe ich nur das Gasthaus ›Falk‹ gefunden«, erwiderte Radek, obwohl er nicht wusste, worauf der Wirt mit seiner Frage hinauswollte.

      »Es gibt auch einige schöne kleine Pensionen hier im Ort«, bemerkte der Wirt.

      »Gut zu wissen. Wo bekommt man dazu nähere Information?«