Peter Glanninger

Finsterdorf


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vererbt und fortgesetzt bis ins digitale Zeitalter. Die Leute kommunizierten zwar mit ihren Smartphones rund um die Welt und buchten über das Internet Abenteuerurlaube in Kanada, aber wenn der Herr Baron seine Ruhe haben wollte, dann waren alle ganz artig und folgsam.

      Radek füllte das Meldeformular fertig aus. Als er im Feld mit dem Beruf angelangt war, überlegte er einen Moment, ob er Polizist angeben sollte, entschied sich jedoch dagegen und schrieb »Beamter«.

      Radek nahm den Schlüssel. »Im ersten Stock, sagten Sie, ist das Zimmer?«

      »Ja, erster Stock links.« Der Wirt bestätigte das, ohne sich umzudrehen oder seine Tätigkeit zu unterbrechen. »Frühstück von 7.30 Uhr bis 11 Uhr im Speisesaal.«

      Den hatte Radek beim Hereinkommen auf der anderen Seite des Gangs gesehen. Er holte seine Reisetasche aus dem Auto und ging hinauf in sein Zimmer. Das war so einfach, aber gemütlich, wie er es aus anderen Gasthäusern auf dem Land kannte. Ein kleiner Vorraum, Kasten, Bad und WC, Tisch mit zwei Stühlen, eine Ablage für die Reisetasche, ein Fernseher mit Museumsreife. Auf dem Balkon ein alter Gartensessel und ein kleiner Blechtisch mit einem Aschenbecher.

      Radek richtete sich im Zimmer ein, räumte seine Tasche aus, und als er sein Gewand im Kasten verstaut hatte, ging er wieder nach unten. Er setzte sich auf die Terrasse vor dem Gasthaus und bestellte eine Tasse Kaffee. Die Gäste von vorhin waren mittlerweile gegangen. Er genoss den warmen Herbstnachmittag. Auf dem Hauptplatz waren keine Leute unterwegs. Es war kurz nach 14 Uhr und die Geschäfte hatten bereits geschlossen.

      Nachdem er seinen Kaffee getrunken hatte, entschied er sich, spazieren zu gehen. Er zog im Zimmer seine Wanderschuhe an und machte sich auf den Weg. Wie magisch zog es ihn hinauf zur Burg Rotenstein. Lag es daran, dass er sich durch das geplante Studium beinahe als Historiker fühlte und die geschichtlichen Orte ganz automatisch seine Aufmerksamkeit erregten und einen unwiderstehlichen Reiz entwickelten?

      Er stieg die Zufahrtsstraße hoch. Oben, hinter der Burg, vom Dorf aus nicht zu sehen, befand sich ein großer Parkplatz, von niedrigen Hecken umgeben und mit Bäumen bewachsen. Am Ende des Parkplatzes sah er eine Garage und ein Wirtschaftsgebäude. Auf dem Parkplatz standen mehrere Autos.

      Hinter der Burg führte eine Wiese zunächst flach und dann etwas ansteigend hinauf zum Waldrand. Ein Teil der Wiese, nahe den Gebäuden, war als Koppel abgezäunt, Radek sah dort zwei Pferde grasen. Ein idyllisches Fleckchen.

      Die Burg überragte die Landschaft, und der mächtige viereckige Bergfried, der Radek schon aufgefallen war, als er in die Ortschaft kam, klotzte vor ihm wie ein unüberwindbares Hindernis. Die Burg war auf einem Felsmassiv aus rötlichem Stein erbaut. Jetzt wusste er auch, woher sie ihren Namen hatte.

      Bevor sich Radek weiter der Betrachtung des gewaltigen Bauwerks hingeben konnte, stand plötzlich ein Mann vor ihm. Schwarzes Hemd, Jeans, ein dunkles Sakko. Groß, kräftig gebaut, kurz geschorenes Haar. Er trug einen Ohrhörer, ein Spiralkabel führte unter sein Jackett.

      »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann bestimmt, aber nicht unhöflich. »Das hier ist ein Privatgrund.«

      Radek war überrascht. Der Typ sah aus wie ein Bodyguard oder der Türsteher einer Diskothek in der Großstadt und passte überhaupt nicht in diese Gegend.

      »Ich wollte mir die Burg ansehen«, sagte Radek wahrheitsgemäß, dennoch alarmiert. »Und ich dachte, es gibt einen Weg rundherum.« Er machte auf naiven Touristen, das konnte nie schaden.

      »Nein, es gibt keinen Weg um die Burg. Die Burg ist bewohnt und Privatbesitz. Der Herr Baron wünscht nicht, dass sich Leute hier herumtreiben.«

      Aha, wieder der Herr Baron, der was nicht wünscht, dachte Radek.

      »Sie müssen zurück ins Dorf. Von dort haben Sie mehrere Möglichkeiten, um im Wald oder auf den umliegenden Bergen zu wandern«, erklärte ihm der Mann. Er sprach wie mit einem ungezogenen Kind und baute sich vor Radek auf.

      Radek war klar, dass der Parkplatzwächter ihn ohne zu zögern mit Gewalt am Weitergehen hindern würde. »Danke für die Auskunft«, sagte er deshalb und warf noch einen Blick auf die Autos. Euer Hochwohlgeboren wünscht gewiss, mit seinen Gästen ungestört zu sein, lag ihm auf der Zunge. Aber er schluckte die Bemerkung hinunter, weil er den Großen nicht unnötig provozieren wollte. Er machte brav kehrt, ging die Straße zurück ins Dorf und suchte sich von dort einen Wanderweg in den Wald.

      8.

      Der herbstliche Wald lud nicht nur zum Wandern ein, sondern auch zum Fotografieren. Die Sonne in den Bäumen, die unterschiedlichsten Farbtöne der Blätter, die im sanften Gegenlicht aus jedem Blickwinkel anders wirkten, diese spätsommerliche Stimmung lockte nicht nur Spaziergänger in die Natur, sondern auch so manchen Hobbyfotografen.

      Deshalb fiel der Mann nicht auf, der mit einer kleinen Fototasche durch den Wald schlich. Ja, es war ein Schleichen, kein Gehen. Er wollte nicht gesehen werden. Und leise zu sein war dafür die erste Voraussetzung. Aus diesem Grund hatte er nur das Nötigste dabei: das Gehäuse seiner Canon EOS 2000D, zwei Zoomobjektive, einen Telekonverter, ein Stativ. Und ein Nachtsichtgerät. Er durfte kein Licht verwenden. Er legte Wert auf wenig Ausrüstung, wollte nicht mit einer riesigen, schweren Fototasche herumlaufen, damit auffallen und von ihr behindert werden. Er musste beweglich bleiben. Er war nicht gekommen, um Bäume oder Blätter zu fotografieren.

      Der Fotograf wusste genau, wohin er musste. Er war nicht zum ersten Mal hier. Alles war vorbereitet. Er hatte ihre Autos gesehen, als sie durch das Dorf fuhren, und hatte gewusst, es war wieder so weit. Er bemerkte nicht immer, wenn sie kamen. Sie trafen sich unregelmäßig, wahrscheinlich vereinbarten sie bei jedem Treffen bereits ihren nächsten Termin. Aber er sah sie häufig, das genügte ihm.

      Er hatte sein Zeug geschnappt und war in den Wald hinaufgegangen. Seine Frau wunderte sich nicht mehr darüber. Er hatte erst vor wenigen Jahren mit dem Fotografieren begonnen, und sie war froh gewesen, dass er ein Hobby gefunden hatte, welches ihm Freude bereitete und ihn darüber hinaus noch dazu bewegte, in die Natur zu gehen. Und seine Kinder scherten sich sowieso nicht um das, was er machte, solange er sie nicht damit nervte oder es ihnen peinlich wurde.

      Langsam und vorsichtig bewegte er sich durch den Wald. Niemand durfte ihn sehen oder bei dem, was er tat, erwischen. Er hatte keine Ahnung, was sie dann mit ihm tun würden, aber er wusste, dass es nichts Angenehmes sein würde.

      Immer wieder verharrte er still und lauschte wie ein Jäger. Im Grunde war er das auch – ein Jäger. Aber ohne Gewehr und nicht hinter Tieren her.

      Ohne Probleme fand er die Abzweigung vom Pfad, die nur er kannte. Hinein in den Wald, weg von den Wanderern und Spaziergängern, die sich selten um diese Zeit noch im Wald herumtrieben.

      Immer tiefer drang er in das Dickicht vor, bis er an den Waldrand kam. Dahinter lagen eine leicht abfallende Futterwiese, die Burg und darunter das Dorf. Der Waldrand war dicht verwachsen mit wilden Hecken und Büschen, mit Brombeer-, Haselnuss- und Holundersträuchern. Er hätte auch über die Futterwiese zu seinem Platz gehen können, aber dabei lief er Gefahr, vom Dorf oder von der Burg oder von der Straße, die zum Friesenbichler-Bauern führte, gesehen zu werden, und das hätte alle seine Pläne zunichtegemacht.

      Er war schon oft hier gewesen, sehr oft sogar, und hatte mit einer Heckenschere eine Nische in das beinahe undurchdringliche Dickicht geschnitten, sodass er nahe genug an den Wiesenrand kam, um einen freien Blick nach unten zu haben.

      Eine perverse Neugier befiel ihn, als er die Fotoausrüstung auspackte. Er stellte das Stativ mit einem kräftigen Ruck auf den Boden, schraubte das Kameragehäuse fest und drehte den Zweifach-Telekonverter mit dem 70-300er Zoomobjektiv auf den Fotoapparat. Er steckte den Fernauslöser an.

      Dann spähte er durch den Sucher und aus dem Dickicht. Ja, das war gut, viel besser als beim letzten Mal. Er veränderte die Brennweite und machte die ersten Fotos von dem Pärchen, das eben mit dem Auto unter ihm die Straße hochfuhr und auf dem Parkplatz anhielt. Perfekt, es war perfekt! Eine unbestimmte Erregung ergriff ihn.

      Während er fotografierte, überlegte er bereits, ob sein Versteck für die Bilder sicher war. Denn er musste