»Du gehst, wenn ich es dir erlaube. Wir sind noch nicht fertig mit dir.«
4.
»Kollege Radek, ich hätte da einen Job für dich.« Chefinspektor Gierling stand mit einem breiten Grinsen in der Tür, kam dann zu Radeks Schreibtisch und blieb vor ihm stehen.
Radek erhob sich. Weniger aus Höflichkeit zu seinem Chef, sondern weil er ihm auf Augenhöhe gegenüberstehen und nicht von oben herab, wie es sich aus dieser Situation sonst ergeben hätte, behandelt werden wollte. Radek wusste, dass Gierling ihn nicht ausstehen konnte. Der Chef machte daraus kein Geheimnis.
Felix Dully, ein Kollege, der an seinem Computer in einen Bericht vertieft war, blickte auf und beobachtete die Situation gespannt. Vielleicht gab es Ärger für Radek. Auch Dully konnte ihn nicht leiden, genauso wenig wie die anderen Kollegen im Einsatzbereich Eins, Leib und Leben, im LKA Niederösterreich. Sie betrachteten Radek als Eindringling. Er war der Jüngste der Gruppe. Alle anderen waren eingefleischte Kriminalbeamte. Er war ein Frischling. Gierling hatte einen zusätzlichen Mann haben wollen, der ihnen den Papierkram erledigte, welcher in den letzten Jahren immer umfangreicher geworden war. Er hätte dafür einen älteren Kollegen bevorzugt, der auf einen ruhigen Posten wollte, auf dem er gemütlich in die Pension segeln konnte. Keinen ehrgeizigen Jungspund, der mit einem Auge stets auf seine Karriere schielte. Aber die besoldungsrechtliche Bewertung der Stelle, die sie bekommen hatten, war so schlecht, dass sich niemand für den Job fand. Nur Radek hatte sich nicht abschrecken lassen und sich direkt nach Beendigung eines Kurses für dienstführende Beamte hierher gemeldet.
Zuvor war er Streifenbeamter und Kriminalsachbearbeiter auf der Polizeiinspektion Linzer Straße in Sankt Pölten gewesen.
Gierling blätterte den dünnen Akt durch, den er in der Hand hielt. »Ich habe hier eine etwas sonderbare Angelegenheit«, sagte er. »Es geht um Folgendes: Vor etwa zwei Wochen wurde in Schandau, das ist ein Nest im Bezirk Scheibbs, ein Mädchen namens …«, er suchte im Akt nach den Personaldaten, »Bernadette Lindner, 17 Jahre alt, als vermisst gemeldet. Die Eltern haben eine Abgängigkeitsanzeige erstattet. Dann ist das Mädchen nach einer Woche unversehrt wiederaufgetaucht. Die Vermisstenanzeige haben wir bearbeitet, es ist jedoch nichts Großartiges herausgekommen. Das Übliche eben.«
Gierling machte eine Pause, als warte er auf Fragen, aber Radek wollte erst die Fortsetzung hören.
»Diese Lindner wirkte auf die Kollegin von der Polizeiinspektion Gresten, die die Sache jetzt bearbeitet, etwas verwirrt. Und zu allem Überdruss hat sie wilde Geschichten vom Teufel erzählt. Na ja, jedenfalls hat die Kollegin einen Bericht ans Bezirkspolizeikommando geschickt und darin den Verdacht geäußert, dass Satanisten ihr Unwesen treiben. Der Sachbearbeiter im BPK übermittelte das Ganze an das Landesamt für Verfassungsschutz, und die haben den Akt an uns weitergeleitet, weil wir die Vermisstensache bearbeitet haben. Mit der Anmerkung, dass es seit den letzten Reformen kein Sektenreferat mehr gebe und die entsprechenden Kompetenzen zur Beurteilung des Sachverhalts nicht mehr vorhanden seien.«
Früher hatte es beim Verfassungsschutz in den Ländern und im Innenministerium eigene Referate für Sekten gegeben. Vor einigen Jahren waren sie allerdings aufgelöst worden. Die wollen sich abputzen, dachte Radek, die wollen uns sagen: Die Dienstbehörde kürzt uns mit ihren Scheißreformen die Ressourcen und deshalb stellen wir für diesen Kram kein Personal mehr ab. Also, liebes LKA, selber machen. Ihm war zwar noch nicht klar, was Gierling von ihm wollte, aber er hatte eine vage Vermutung.
»Was erwartest du jetzt von mir?«, fragte Radek. »Soll ich eine Analyse anfertigen?«
Radek machte in Gierlings Gruppe nur wenig kriminalpolizeiliche Arbeit. Vorwiegend analysierte er Berichte und Sachverhalte von Straftaten, führte Computerrecherchen durch oder erledigte sonstigen Papierkram. Arbeiten, die allen anderen zuwider waren. Gierling wollte ihn damit aus dem Ermittlungsteam raushalten.
»Nein, du sollst keine Analyse machen. Du sollst dort hinfahren und dir die Situation vor Ort anschauen«, sagte Gierling.
Das überraschte Radek. »Wie meinst du das?«, fragte er etwas verunsichert.
Gierling zuckte die Schultern. »Das LV hat schon recht. Eigentlich sind wir dafür zuständig. Aber ich möchte keinen großen Wind um die Sache machen. Deshalb folgende Überlegung: Arbeite dich in den Akt ein, fahr nach Schandau und schau, was da los ist. Vor allem solltest du klären, ob mit der Abgängigkeit ein strafrechtlicher Tatbestand verbunden ist. Soweit ich das bisher gesehen habe, hat sich die Kollegin dort diesbezüglich noch nicht festgelegt. Wenn du das geklärt hast, dann überlegen wir, was wir in dieser Angelegenheit weiter unternehmen werden. Sollte es eine Entführung sein, sind wir dafür zuständig. Du weißt ja, das ist eine Straftat, die in unseren Bereich fällt.«
Er grinste breit und es sah nicht so aus, als würde er das, was er eben gesagt hatte, selbst ernst nehmen. Aber es stimmte. Entführung war ein schweres Delikt, den ihr Einsatzbereich zu bearbeiten hatte. Allerdings zweifelte auch Radek daran, dass es sich tatsächlich um eine solche handelte. Sonst wären aus der Polizeiinspektion Gresten klarere Informationen gekommen.
»Soll ich da alleine hinfahren?«, fragte Radek.
»Brauchst du einen Partner?«, lautete die Gegenfrage. »Du sollst nicht großartig ermitteln. Hör dich in diesem Nest ein bisschen um, sprich mit der Kollegin, dem Mädchen, den Eltern und mit wem du willst. Stell fest, ob dort wirklich der Teufel sein Unwesen treibt und junge Mädchen verschleppt.«
Gierling gab sich launisch, und Radek tat ihm den Gefallen und zeigte ihm ein belustigtes Grinsen. Auch Dully kicherte hinter seinem Computerbildschirm.
Gierling bevorzugte zwar Teamwork, aber er hatte keine Lust, die Zeit seiner Leute mit derartigen Kleinigkeiten zu verschwenden. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, Radek für eine Weile zu beschäftigen und draußen zu haben. In Wirklichkeit war die ganze Sache lächerlich. Wenn hinter der Abgängigkeitssache keine Entführung steckte – und das sah bisher nicht so aus –, konnte das Bezirkspolizeikommando diese Geschichte erledigen. Der Satanismusverdacht klang ohnehin wie ein Scherz, vermutlich eine Fehleinschätzung der Kollegin.
»Ich habe dir einen Reiseauftrag für eine Woche genehmigt«, fuhr er fort. »Du wirst wahrscheinlich nicht so lange brauchen. Nimm dir am Montag ein Dienstauto. Du kannst die ganze Woche in Schandau bleiben, wenn nötig. Das ist ja eine Stunde Fahrt von hier. Zahlt sich nicht aus, jeden Tag hin und her zu pendeln. Melde dich zwischendurch bei mir und halt mich auf dem Laufenden.«
Er reichte Radek den Akt über den Tisch, Radek nahm ihn und widerstand der Versuchung, gleich darin zu blättern.
»Hast du noch Fragen?«
Radek schüttelte den Kopf. »Nein, momentan nicht.«
»Na dann: Viel Spaß in der Provinz.«
Gierling lächelte noch einmal unverbindlich, für ihn war das Gespräch beendet. Er verabschiedete sich und ging in sein Büro zurück.
»Radek, der Exorzist. Gehst du jetzt unter die Teufelsaustreiber?«, fragte Dully mit gackerndem Gekicher.
Radek gab ihm keine Antwort. Dully schien auch keine zu erwarten.
5.
Der Akt gab nicht viel her. Da war die Vermisstenmeldung, in der die Mutter, Anette Lindner, am 7. September, einem Samstag, gegen 18 Uhr in der Polizeiinspektion Gresten eine Anzeige erstattet hatte, weil ihre 17-jährige Tochter Bernadette nicht nach Hause gekommen war. Bernadette war am Vorabend weggegangen und sollte eigentlich am Samstag arbeiten. Sie war als Friseurlehrling im Salon Doleschal in Schandau beschäftigt. Nachdem sie am Samstagmorgen weder zu Hause noch bei der Arbeit aufgetaucht war, hatten sich die Eltern Sorgen gemacht und sie gesucht. Vergeblich allerdings, daher hatte die Mutter am Samstagabend die Anzeige erstattet.
Auch der Erhebungsbericht war erwartungsgemäß mager. Die Kollegin, die den Fall zuerst bearbeitet hatte, hatte herausgefunden, dass Bernadette am Freitagabend mit einer Freundin bis gegen 23 Uhr im Gasthaus »Falk« in Schandau gewesen