Peter Glanninger

Finsterdorf


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seiner Frau noch seinen Kindern. Sie waren keine schlechten Menschen, im Gegenteil, aber sie waren genauso verführbar wie die anderen. Deshalb traute er ihnen nicht über den Weg. Und den Leuten im Dorf sowieso nicht.

      Er bereute es, den Fotoapparat nicht mitgenommen zu haben. Der Herbst, der sich im Wald in strahlenden Farben präsentierte, hätte eine Menge schöner Fotomotive geboten. Radek hatte eine der Wanderrouten aus der Broschüre, die ihm Falk gegeben hatte, ausgewählt und war eine lange Runde im Wald gegangen, bei der er fast zwei Stunden unterwegs gewesen war.

      Jetzt saß er auf der Terrasse vom Gasthaus »Falk«, hatte ein herrlich kühles Bier vor sich auf dem Tisch und blätterte in der Broschüre, um eine Wanderung für den nächsten Tag zu suchen.

      Schräg gegenüber vor einer Fleischhauerei standen zwei ältere Frauen auf dem Gehsteig und tratschten. Offensichtlich hatten sie eine ganze Menge zu besprechen, denn als Radek das Bier halb ausgetrunken und für morgen eine Tour gefunden hatte, waren sie noch immer dort. Während er überlegte, was wohl so interessant sein könnte, dass es die beiden Frauen dazu brachte, ein zufälliges Treffen derart auszudehnen, kam ein etwa 20-jähriges Mädchen in einem langen dunklen Mantel den Gehsteig entlang. Bevor sie die beiden Frauen erreicht hatte, unterbrachen diese ihr Gespräch, wichen zur Seite, senkten in einer unterwürfigen Geste die Augen und ließen die Jüngere vorbeigehen. Danach setzten sie ihr Gespräch fort, allerdings steckten sie nun die Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt. Immer wieder blickten sie verstohlen der jungen Frau nach, als hätten sie Angst, dass das Mädchen sie hören und zurückkommen könnte. Radek wunderte sich, warum die beiden Klatschtanten sich vom Auftauchen der jungen Göre so einschüchtern ließen, einfach zur Seite traten, ohne ein Wort zu sagen, jetzt aber ihr Gift über die Jugendliche und das eben Geschehene verspritzten.

      Immer das gleiche Spiel, dachte er, zuerst kuschen, sich nicht trauen, aufzustehen, und sich dann das Maul zerreißen. Er trank sein Bier aus. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden und es wurde kühler. Zeit, hineinzugehen.

      Zwei Stunden später saß er in der Gaststube, und während er aß, füllte sich das Lokal. Männer setzten sich an die Theke, tranken Bier oder Wein, gingen wieder, machten damit Platz für andere. An den Tischen sammelten sich einige Jugendliche. Es war Samstagabend und das Schandauer Nachtleben ziemlich bescheiden, vermutete Radek. Wer nicht mit dem Auto in eine der größeren Städte in der Umgebung fahren konnte, musste sich wohl oder übel mit den beiden Gasthäusern hier im Dorf zufriedengeben.

      Das hier war also das Lokal, in dem Bernadette Lindner am Abend ihres Verschwindens gewesen war. Radek überlegte, ob er Falk gleich befragen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Noch war er hier auf einem Wochenendurlaub und nicht im Dienst.

      Radek hatte ein Buch mitgenommen, das ihn interessierte und das er sicherlich auch für die Uni gebrauchen konnte, sowie einen Schreibblock. Er wollte sich angewöhnen, seine Lektüre, die er in Zukunft zu lesen hatte, gewissenhaft zu exzerpieren, um sich damit später Zeit und Arbeit zu ersparen. Er las intensiv und konzentriert, obwohl er sich bemühte, keinen der Gäste, die kamen und gingen, zu übersehen. Er versuchte die Leute zu sondieren, ohne dabei aufdringlich zu wirken, sie einzuschätzen und sich ein Bild von den Bewohnern des Ortes zu machen.

      Irgendwann im Laufe des Abends kam eine junge Frau ins Lokal und setzte sich an den Ausschank. Sie fiel ihm auf, weil sie hübsch und alleine war. Die Männer an der Bar begrüßten sie freundschaftlich, ebenso die Kellnerin, sie war also keine Unbekannte. Radek bemerkte sofort ihren dunklen Lidschatten, der ihr mit dem halblangen brünetten Haar und ihrer schwarzen Kleidung ein beinah mondänes Erscheinungsbild verlieh, das viel besser in ein Wiener Szene-Lokal als in dieses Dorfgasthaus gepasst hätte.

      Sie bestellte ein Glas Rotwein, zündete sich eine Zigarette an, blickte sich im Lokal um und registrierte, dass Radek sie beobachtete. Es schien sie nicht zu stören. Im Gegenteil, Radek hatte den Eindruck, als würde sie ihre Wirkung auf ihn genießen. Sie wandte sich der Kellnerin zu, die gerade an der Espressomaschine hantierte. Schnell wechselten sie einige Sätze, sie erkundigte sich nach dem fremden Gast. Dann drehte sie sich wieder zu Radek, schlug die Beine übereinander und musterte ihn mit interessiertem Blick. Sie lächelte. Ihr Verhalten war nicht verführerisch, eher neugierig, als ob sie fragen wollte: Na, was bist denn du für einer? Radek wusste, dass er nicht hässlich war, und kannte seine Wirkung auf Frauen. Trotzdem war es ihm beinahe peinlich, so direkt in Augenschein genommen zu werden, vor allem, weil das Verhalten des Mädchens auch die Aufmerksamkeit der übrigen Männer an der Bar auf ihn lenkte und sie ihrem Blick folgten. Plötzlich starrten ihn vier weitere Augenpaare an. Sie beobachteten ihn allerdings nicht freundlich, sondern argwöhnisch. Aus Verlegenheit nahm Radek sein Bier und prostete den Leuten an der Bar jovial zu, aber die Männer ignorierten es. Das Mädchen allerdings hob das Glas und erwiderte seine Geste mit einem Kopfnicken und einem Lächeln.

      Radek versteckte sich wieder hinter seinem Buch und las weiter.

      Später am Abend leerte sich das Gasthaus langsam. Auch das Mädchen an der Bar verschwand bald, nachdem sie das Glas Wein ausgetrunken hatte. Als Radek bemerkte, dass er mittlerweile der letzte Gast war und die Kellnerin ihn gelangweilt beobachtete, ging er in sein Zimmer hinauf.

      9.

      Etwas stimmte nicht. Es war ihm nicht sofort klar und es dauerte eine Weile, bis er dahinterkam. Radek saß beim Frühstück am Fenster, so, dass er nach draußen auf den Hauptplatz blicken konnte. Er war der einzige Gast, zumindest war kein anderer Tisch gedeckt. Die Kellnerin brachte ihm ein üppiges Frühstück. Wurst, Käse, Butter, Marmelade, reichlich Gebäck und eine große Thermoskanne mit Kaffee. Er bestellte ein weiches Ei. Er liebte es, ausgiebig und lange zu frühstücken. Er hatte sich von der Theke einige Tageszeitungen geholt und blätterte sie mit mäßigem Interesse durch. Manchmal warf er einen Blick aus dem Fenster nach draußen.

      Und während er aß und ab und zu auf den Hauptplatz hinaussah, begann ihn etwas an dem Bild zu stören.

      Es war ein schöner Morgen. Er hatte hervorragend geschlafen und es war kurz nach 9 Uhr. Die Herbstsonne schien mild auf den menschenleeren Platz vor der Kirche.

      Das war es: keine Menschen vor der Kirche. Das störte ihn.

      Radek war nicht religiös. Ein Arbeiterkind, seine Familie war sozialdemokratisch aus tiefster Seele, da gab es keinen Platz für die Kirche. Seine religiöse Erziehung beschränkte sich auf die katholischen Pflichtübungen: Taufe, Erstkommunion, Firmung. Gerade so viel, dass ein Kind in der Provinz überleben konnte, ohne ins soziale Aus gedrängt zu werden, in einem Land, das von Kirche nur so triefte und in dem sogar die Sozialisten katholisch waren, wie es sein Vater verächtlich ausdrückte. Aber auch keinen Fingerzeig mehr. So war es nur eine logische Konsequenz, dass Radeks erste eigenständige politische Handlung – als solche sah er es – nach Erreichen der Volljährigkeit darin bestanden hatte, aus der Kirche auszutreten.

      Deshalb hatte er keine Erfahrung mit der Kirchenpraxis und war ein wenig verunsichert. Möglicherweise täuschte er sich. Aber er wusste, dass die Leute am Sonntagvormittag in die Messe gingen, davor und danach vor der Kirche standen, tratschten. Anschließend marschierten die Männer ins Wirtshaus, während die Frauen sich auf den Weg nach Hause machten, um das Mittagessen zu kochen. Doch vielleicht war das nur ein Klischee, alles nicht mehr wahr, längst überholt. Trotzdem fand am Sonntagvormittag der Gottesdienst statt. Daran hatte sich noch nichts geändert.

      Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, und je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Er brauchte Gewissheit.

      Er trank seine Tasse Kaffee aus und gab der Kellnerin Bescheid, dass er schnell etwas erledigen müsse, aber gleich wieder zurück sei und sie das Frühstück noch nicht abräumen solle. Dann eilte er über den Platz zur Kirche. Er trug nur einen Sweater, darunter ein T-Shirt, er hatte nicht vor, lange wegzubleiben, und in der milden Sonne war es ohnehin nicht kalt.

      Neben dem Kirchenportal sah er eine Tafel mit der Aufschrift »Heilige Messe« und den Uhrzeiten, zu denen sie stattfand. Er blickte auf die Uhr. 9.30 Uhr, die Messe müsste vor 15 Minuten begonnen haben. Er hatte jedoch seit gut einer Stunde den Platz vor der Kirche im Blick. Möglicherweise gab es einen Seiteneingang, den er übersehen hatte.