Edelgard eilte zu ihnen. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Spielt Mom immer noch Miss Marple?«, raunte Julian seinem Vater zu und folgte seiner Mutter.
»Alles ist weg! Meine Kreditkarten, mein Pass! Wie fliege ich jetzt morgen zurück nach Hamburg? Eine Katastrophe.«
»Meine Brieftasche ist auch verschwunden! Ausweis, alles weg.« Der Mann war wütend. »Ich dachte, Stockholm sei eine sichere Stadt! Zumindest als ich hierherreiste.«
»Haben Sie Ihr Smartphone noch?«, fragte Julian die beiden.
Der Mann griff in die Innentasche seiner Jacke. »Ja, das ist da.«
»Wenden Sie sich an die deutsche Botschaft. Die Adresse finden Sie rasch im Internet.«
»Aber wie kommen wir dahin? Unser Geld ist weg!«
Julian zog seine Börse, entnahm ihr einen Schein und eine Visitenkarte.
»Nehmen Sie sich ein Taxi. Wenn Sie wieder zu Hause sind, melden Sie sich bei mir und geben mir das Geld zurück.«
»Danke sehr, Herr …?«
Julian tippte auf die Karte, die der Mann in der Hand hielt. »Buchmann. Viel Glück!«
Er zog seine Eltern weiter.
»Schrecklich, im Urlaub alle Papiere zu verlieren«, kommentierte Edelgard das soeben Erlebte.
»Es gibt Schlimmeres, Mom. Es ist ärgerlich, nichts weiter.«
»Wer das wohl war? Lieber Himmel, so ein Raub hätte uns genauso treffen können!«
»Mom, übertreibe bitte nicht derart. Von ausrauben kann hier keine Rede sein. Niemand wurde bedroht oder ist körperlich zu Schaden gekommen. Das war Diebstahl, nichts weiter.«
»Deine Mutter sieht überall Verbrecher. Kannst du mir getrost glauben.«
»Ach was, ich sehe lediglich die Realität. Oder was war das eben? Ich habe mir nicht etwa eingebildet, dass das nette Paar beklaut wurde?«
»Lass uns etwas essen gehen.« Norbert hatte keine Lust darauf, das Thema Kriminalität ausgerechnet im Urlaub zu vertiefen. Wenn Edelgard erst einmal damit begonnen hatte, war es schwierig, sie davon abzuhalten, sich permanent neue kriminelle Ereignisse auszudenken, die ihnen ihrer Ansicht nach zustoßen könnten.
Julian führte seine Eltern in ein Restaurant. Norbert stellte erstaunt fest, dass es für schwedische Verhältnisse einen relativ günstigen Mittagstisch gab. Jedenfalls waren die Preise, die deutlich über denen in vergleichbaren Gaststätten in Deutschland lagen, weitaus niedriger als die auf der Abendkarte.
»Ich finde gar kein Surströmming.« Norbert blätterte in der Speisekarte. »Einer meiner Kollegen hat mir das empfohlen. Ich soll das unbedingt probieren, während wir hier sind, hat er gesagt.«
Julian grinste. »Hat er das?«
»Es sei eine Delikatesse, die man unbedingt kosten müsse. Ich würde etwas versäumen! Das will ich natürlich auf gar keinen Fall.« Wie immer war Norbert kulinarischen Hochgenüssen gegenüber sehr aufgeschlossen und voller Elan, etwas Neues zu testen.
»Also, Paps, es ist so …«
»Das gibt es nur in richtig teuren Restaurants? Bieten die es deshalb hier nicht an? Kann man es nicht im Supermarkt kaufen und wir essen es gemütlich in deiner Wohnung?«
»Auf gar keinen Fall!«
»Ist es derart teuer? Ach, komm schon, das gönnen wir uns. Wenn wir dich schon mal besuchen. Da will ich nicht auf jeden Cent gucken.«
»Es ist eine seltsame Delikatesse, um die es sich hierbei handelt. Vielleicht schmeckt sie dir gar nicht.«
»Woher willst du das wissen? Hast du sie schon gekostet?«
Edelgard hatte schweigend zugehört. Nun schaltete sie sich ein. »Norbert, das ist Stinkefisch. Da hat dich dein Kollege ganz schön verschaukelt.«
»Stinkefisch?«
»Mom liegt richtig. Surströmming ist vergorener Fisch aus der Dose. Die Dosen sind vom Gärprozess sogar verbeult. Keine Ahnung, weshalb das hier als Delikatesse gilt. Ehrlich gesagt riecht es schon ziemlich eigenartig, um es mal sanft auszudrücken. Es gibt sogar Leute, die sagen, es stinkt fürchterlich. Du verpasst sicherlich nichts, wenn du es nicht probierst. Lass uns lieber etwas anderes Typisches bestellen. Außerdem isst man Surströmming hauptsächlich im Norden Schwedens und nicht in der Hauptstadt.«
»Wie wäre es mit diesen kleinen Hackfleischbällchen?« Edelgard tippte mit ihrem Finger auf die Karte. »Köttbullar?«
Norbert fragte: »Die kennst du von deinen hemmungslosen Teelichter-Einkaufstouren in einem bekannten Möbelhaus?«
Edelgard ignorierte seinen Einwand. »Also, ich nehme die. Wie wäre es mit einem Lachs für dich, Norbert? Wegen deiner Cholesterinwerte sollst du viel Fisch essen.«
Norbert nickte mit einem glücklichen Lächeln. Wie besorgt seine Frau um ihn war. Er gratulierte sich gedanklich zu seiner Entscheidung für sie. Obwohl sie ihn ständig dazu nötigte, in Urlaub zu fahren, und sich dabei oft waghalsig verhielt. Etwa indem sie gemeinsam mit ihm auf Burgen mit steilen Abhängen stieg und dann am Rand balancierte. Schon des Öfteren hatten andere Reisende sie beide auf solche Gefahrensituationen hingewiesen. Wie schnell konnte es geschehen, dass man aufgrund eines einzigen Fehltrittes abstürzte! Aber diese Abenteuerlust hielt seine Liebe zu ihr jung. Wie gut, dass er damals nicht auf seine Mutter gehört hatte, die ihm diese Ehe hatte ausreden wollen. Mutti hatte nicht immer recht! Das hatte er damals intuitiv gespürt. Und erst ihr gemeinsamer Sohn! Edelgard hatte ihn mit der Geburt Julians zum Vater gemacht. Das war für ihn die größte Freude.
Er nickte seiner Frau zu. »Lachs klingt gut. Den nehme ich gerne.«
Julian schloss sich der Entscheidung seines Vaters an und gab die Bestellung auf. Danach erhob er sich, um Wasser zu holen. Das stand in einer Karaffe, neben einer Kanne Kaffee, zur Selbstbedienung auf einem kleinen Tisch bereit.
Als er mit den Gläsern zurückkam und sich wieder setzte, hatte seine Mutter die nächste Frage parat. »Deine Freundin lernen wir doch kennen?«
»Lass den Buben in Ruhe. Sei nicht derart neugierig.«
»Das ist keine Neugierde, Norbert! Du verwechselst das, wie so oft, mit Anteilnahme.« Sie trank einen Schluck. »Also, Julian, wann und wo?«
Julian nahm seine Serviette und tupfte sich den Mund ab. So gewann er immerhin ein klein wenig Zeit, um nachzudenken. »Tja, ich weiß nicht so genau …«
»Mittsommer! Wie wäre es damit? Das ist die perfekte Gelegenheit, um das neue Familienmitglied kennenzulernen.«
»Mom! Wir kennen uns erst seit ein paar Wochen.«
»Kein Grund, sie uns nicht vorzustellen. Ich werde sie mit offenen Armen empfangen. Das kannst du mir glauben.«
Norbert seufzte in Erwartung der wiederholt erzählten Geschichte, wie sie selbst von ihrer eigenen Schwiegermutter abgelehnt worden war.
»Ich freue mich so darauf.« Edelgard lächelte erwartungsvoll.
»Na gut, ich kann ja mal darüber nachdenken. Und sie fragen.«
»Lass dir nicht zu viel Zeit. Mittsommer steht direkt vor der Tür.«
»Schon klar.«
»Wie heißt sie eigentlich?«
»Frida.«
Nach dem Hauptgang ließen sie sich Erdbeeren als Nachspeise bringen.
»Die Erdbeeren sind aber besonders klein«, nölte Norbert.
»Es sind wilde Erdbeeren. Die sehen anders aus als die in deutschen Supermärkten.« Edelgard nahm vorsichtig eine in den Mund. »Fruchtig. Eindeutig. Schmeckt perfekt. Mit so einem vollen Aroma kriegst du die bei uns gar nicht.«
Norbert