Er sie schon. Denn sie gefiel ihm. War sexy, schlank, sinnlich.
Sie war auch lustig. Er hatte sie angesehen und sich in ihren Anblick vertieft. Die junge Frau berührte sein Herz. Sehr. Damals. Just in diesem Moment hatte sie seinerzeit zu ihm herübergeblickt. Eine Welt war für ihn aufgegangen.
In diesem Augenblick spürte er – nur sie.
Walli wurde langsam unrund. Sie bereitete sich darauf vor, Thomas sein Geheimnis zu entlocken. So behutsam sie konnte. Dabei sah sie ihn freundlich an. Überlegte vorerst aber, was sie beim Ober bestellen sollte. Es fiel wenig originell aus. Sie bestellte: »Einen Caffè Latte, bitte!«
»Auf dich ist eben Verlass, zumindest dabei«, witzelte Thomas gut gelaunt.
Walli war erstaunt. Er zeigte Humor. Auch wenn der gerade auf ihre Kosten ging. Aber immerhin. Ein neuer Zug an ihm. Thomas bestellte eine Melange. Das war ein Espresso mit doppelt so viel Wasser und Milchschaum. Sie wusste, er liebte diese klassische österreichische Kaffeespezialität.
»Du bist ja so gut drauf. Gibt es da etwas?«, fragte Walli Winzer vorsichtig.
Thomas sah sie offen an und schüttelte bedächtig seinen Kopf. »Ich freu mich, dass wir einander wiedersehen. Das ist alles. Ist ja schon eine Ewigkeit her.«
»Ja, ich weiß gar nicht, wann’s das letzte Mal war?«
»Ein halbes Jahr ist das mindestens her«, war sich Thomas Drexler sicher.
Walli begann erst gar nicht nachzurechnen. Viel zu sehr war sie damit beschäftigt, die für sie ungewöhnliche Situation unter Kontrolle zu halten. Sie sah daher ihren Ex mild und verständnisvoll an.
Da Thomas die gedankliche Abwesenheit Wallis nicht erklären konnte, beschloss er, ihr von seiner letzten Reise zu erzählen: »Eine beeindruckende Reise und ein unglaublicher Gegensatz, diese Türkei, damals zu heute …«
4. Kapitel
»Pass doch auf!«
Ein Mann fortgeschrittenen Alters wandte sich behänd einem jüngeren zu und stöhnte. Das Silbertablett, das mit Schwarztee gefüllten Gläsern beladen war, kippte seitlich. Den langen Weg durch den Schauraum hatte der Kellner unbeschadet gemeistert, und jetzt dieses Malheur! Die braune Lure auf dem Tablett drohte, auf Walli Winzers Blazer zu tröpfeln. Im letzten Moment konnte der erfahrenere Mann das Schlimmste verhindern.
»Puh, das war jetzt knapp.« Walli Winzer war rechtzeitig in Deckung gegangen und geschickt ausgewichen. Dabei war sie vom Stuhl aufgesprungen und hatte sich ungewollt einem der Umstehenden angenähert. Sie lächelte entschuldigend, was dieser mit besonderer Höflichkeit erwiderte. Er verneigte sich mit sanft abwehrender Geste vor ihr, die wohl Gleiches verdeutlichen sollte.
»Ömer, du musst schauen, wo du hinsteigst!«, rief ihm dessen Vorgesetzter wenig freundlich zu, dann wandte er sich an Walli: »Entschuldigen Sie. Ist Ihnen auch wirklich nichts passiert?« Er musterte Wallis Blazer.
Walli merkte, dass er stoppte, um ihr nicht zu nahe zu treten, und dass er seine Augen von ihr abwandte. Er winkte eine junge Kollegin herbei, die in der Nähe einer Besuchergruppe stand. Sie sollte seinen Gast auf der Suche nach vermeintlichen Teespritzern auf der Kleidung unterstützen.
Walli neigte sich ein wenig und musterte ihren Blazer, konnte aber nichts erkennen. »Lassen Sie’s. Es passt schon«, entgegnete sie in Richtung der jungen Frau. Diese ließ sich nicht aufhalten und ging um Walli Winzer herum, die jetzt in der Mitte des Verkaufslokals stand. Es war geräumig und voller handgeknüpfter Teppiche. Einige lagen gestapelt im Seitenbereich. An den Wänden hingen in Muster und Farbe aufeinander abgestimmte Kostbarkeiten.
»Da, sehen Sie! Sie haben doch etwas Tee auf der Hose. Seitlich vom Bug. Schauen Sie mal.«
Walli Winzer winkelte ihr Bein ab und stand plötzlich mehr oder weniger nach Balance suchend da. Sie bot eine unfreiwillig komische Pose. Sie wusste nicht, ob es das oder doch eher die Gesamtsituation war, die die Blicke der anderen auf sie zog. Die junge Frau kicherte, als sie Walli Winzer auf einem Bein hin und her hüpfen sah. Walli musste ebenfalls darüber lachen. Sie fuhr sich mit der Hand über den Fleck.
Eine ältere Frau kam auf sie zu und zischte: »Adile, draußen sind noch einige Häppchen hereinzuholen.« Sie machte eine beschleunigende Geste in Richtung der Nebenräume.
Die junge Frau tat, wie ihr geheißen. Ihrem heiteren Gesichtsausdruck tat dies dennoch keinen Abbruch.
»Natürlich ersetzen wir Ihnen die Reinigung. Wir haben eine Putzerei, die das für Sie erledigen wird. Adile Gül wird morgen bei Ihnen vorbeikommen und das Ensemble abholen.«
»Nicht der Rede wert.«
»Doch. Es ist uns sehr peinlich. Aber Ömer ist erst seit vergangener Woche als Praktikant bei uns.«
Walli Winzer lachte: »Da hat er aber tatsächlich noch einiges zu lernen. Vor so vielen Leuten quer durch den Saal zu laufen, ist sicher nicht leicht. Angestarrt zu werden und nicht nervös zu werden, das muss man erst lernen. Beim nächsten Mal kann er es schon.«
Walli wunderte sich über ihre Nachsicht. Vor zwei Jahren, also vor ihrem Waldviertel-Trip, wäre sie in so einer Situation vor Zorn explodiert. Aber jetzt? Keep cool. Alles war ersetzbar.
Sogar ein Hosenanzug von Valentino. Sündhaft teuer zwar, aber ersetzbar.
Repräsentieren war diesmal nicht so wichtig. Denn das Geschäft zwischen Manfred Tuchner und Halim-Istanbul war bereits abgeschlossen. Er hatte bloß darauf bestanden, dass auch Walli sich die Teppiche der Kollektion ansehen sollte.
Die Männer des Teppichgeschäfts Halim-Istanbul hatten sich inzwischen einander zugewandt und besprachen letzte Details zur Vorführung der Stardesignerin Lale Eser. Sie war ein neuer Stern am Firmament des internationalen Kunstmarktes, lebte im Westen, bezog aber ihre Impulse weiterhin stark aus der türkischen-orientalischen Ornamentik. Wiens prominentester Teppichhandel mit exklusiven Kontakten zu ausgewählten anatolischen Teppichwerkstätten hatte von Bachwirken und der Designerin genaue Anweisung erhalten, geeignete Objekte passend zur Stoff- und Tapetenkollektion zu finden.
Junge Männer brachten unter hektischer Anweisung edle Stücke unterschiedlicher Größe in den Schauraum. Einige davon waren offenbar so schwer, dass nur mehrere zugleich die großen Rollen hereintragen konnten.
Beim größten und schwersten Teppich mussten zwei Männer ran. Nachdem sie ihn griffbereit platziert hatten, wurden noch einige oberhalb positioniert. Ein junger Mitarbeiter zog ruckartig an einem der unteren, worauf sich ein höher liegender löste, herabfiel und entrollte.
Der Verantwortliche, Bülent Yüksel, schnaubte vor Wut über die Ungeschicklichkeit, weshalb er kurzerhand auf seinen Mitarbeiter zuging und ihm vor allen einen Klaps auf den Hinterkopf verabreichte. Erschrocken mehr der Schmach als des Schlags wegen zog der Beschämte seinen Kopf ein und machte sich gleich daran, den Schaden zu beheben. Einige Kollegen halfen ihm dabei.
»Ja, bei uns geht’s manchmal ohne viele Worte.« Adile Gül lächelte verlegen. Sie hatte Walli Winzers verwunderten Blick gesehen. »Chef der Mannschaft ist Bülent, ein Verwandter von mir. Manchmal wird er sehr zornig, er meint es aber nicht so.«
»Aha«, sagte Walli überrascht. »Na ja, ich müsste lügen, wenn ich sage, dass ich so etwas nicht selbst kenne. Die g’sunde Watschn, wie man eine Ohrfeige nennt, war bis vor Kurzem in Österreich gang und gäbe. Jetzt sieht man’s zumindest halt in der Öffentlichkeit weniger.« Walli drehte sich von der Szene weg.
Adile gab sich erstaunt: »Mag sein. In meiner Genossenschaftswohnung in Donaustadt schreit oberhalb von mir manchmal ein Zehnjähriger furchtbar laut. Die Mutter schlägt ihn regelmäßig. Alle hören das. Sie sperrt ihn in seinem Zimmer ein. Dort jammert er oft stundenlang. Sie tut nach außen immer sehr freundlich. Niemand macht etwas dagegen.«
»Und Sie?«
»Ich? Denken Sie, dass mir beim Jugendamt jemand glaubt? Als junger Türkin? Gegen eine Österreicherin?