Maria Publig

Waldviertelblut


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Frau wandte sich ebenfalls ab. »Ich habe Ihnen ein feuchtes Tuch mit ein bisschen Fleckenreiniger darauf geholt. Damit trocknet der Tee nicht zur Gänze ein.«

      Walli nahm Adile Gül das Schwammtuch aus der Hand. Tatsächlich hellten die Flecken bereits nach Kurzem auf.

      Inzwischen kam auch der Geschäftsführer, Eraydin Turan, aus einem der Nebenräume zielstrebig auf Walli Winzer zu. Von all dem, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte, hatte er nichts mitbekommen. Er stellte sich daher gleich neben sie und gab ihr Unterlagen, die er vor der Schau für sie vorbereitet hatte.

      »Ah, ich sehe, die Teppiche sind schon griffbereit gestapelt.«

      Die Belegschaft hatte sich ebenso versammelt und blickte erwartungsvoll zu Turan.

      »Ich fasse für Sie kurz zusammen, was einen türkischen Teppich, in unserem Fall einen anatolischen, ausmacht: Dass die türkische Knüpfkunst sehr alt ist, wissen Sie. Sie geht bis ins zwölfte Jahrhundert zurück. Und ihre Einflüsse sind global. Über die Jahrtausende hinweg! Die Muster wären nicht so charakteristisch, wenn es keinen regelmäßigen Austausch mit anderen textilknüpfenden Nationen gegeben hätte. Das sind nicht nur Persien, Indien, Armenien, China, sondern auch Pakistan, Syrien, Griechenland und die Kurden. Sprich: jedes Land, das in der Welt des Teppichs je Bedeutung erlangt hat. Wir werden das gleich sehen. Eine Erlebniswelt vom Feinsten. Eine Reise durch die Jahrtausende.«

      Walli Winzer hielt alle Ausdrucke in ihren Händen, war aber nicht interessiert, darin zu blättern, weil sie den Ausführungen Turans lauschen wollte. Sie überlegte bereits, wie sie ihn im Pressegespräch einsetzen könnte. Eine kleine exotische Note wäre in der globalen Kollektionsausrichtung sicher willkommen. Und wer, wenn nicht er, wäre dazu besonders geeignet?

      Eraydin Turan erzählte weiter von der turkmenischen und der kaukasischen Tradition. Von der höfischen, feineren Webkunst in Istanbul sowie den hochwertigen Gebrauchsteppichen Anatoliens, Richtung Osten der Türkei.

      »Und die Leute lebten tatsächlich für und mit ihren Teppichen?«, fragte Walli zwischendurch erstaunt.

      »Ja, der Teppich ist heute noch in unserer Kultur ein wichtiger Bestandteil der Wohnung. Seine Muster erzählen Geschichten. Tiere und Menschen werden selten abgebildet. So wie Bilder an Wänden kaum üblich sind.«

      Turan gab Bülent Yüksel den erwarteten Wink. Daraufhin zogen zwei junge Männer einen der Teppiche vom Stoß und rollten ihn nach kurzem Anheben und einem kräftigen Ruck in der Mitte des Schauraums aus.

      »Sehen Sie: Türkische Teppiche können unterschiedlich aussehen. Dieser hier wird den höfischen Teppichen zugeordnet und ist in seiner floralen Ornamentik stärker an Persien orientiert. Allein aufgrund der Größe der Türkei gab und gibt es bis heute große regionale Unterschiede, die sich auch in der Webkunst wiederfinden: der Teppich als Ausdruck künstlerischer Eingebung und kultureller Vielfalt.«

      Eraydin Turan winkte nach dem nächsten Teppich. Wie zuvor wussten seine Angestellten genau, welche der riesigen Kostbarkeiten sie zu wählen hatten.

      Der Experte fuhr fort: »Nomaden hingegen konnten aufgrund ihrer mobilen Verhältnisse keine großen Webstühle aufbauen. Sie spezialisierten sich daher auf kleinere Fertigungen. Charakteristisch sind geometrische Muster, die sich konzentrisch zu verkleinernden Rautenformen verdichten.«

      Walli Winzer staunte nicht schlecht.

      Turan fuhr fort: »Die Istanbuler Stardesignerin Lale Eser interessiert aber mehr das 21. Jahrhundert, in dem sie die Weiterentwicklung und Gegenüberstellung geometrischer Muster aus dem Narrativ des anatolischen Formenkanons heraus verortet, den sie in ihren neuen Mustern der Pluralität des digitalen Binärcodes im Kontext des stilistischen Formenkanons des Jugendstils künstlerisch gegenüberstellt. Ihre neue Stoff- und Tapetenkollektion für Bachwirken befindet sich in Ihrer Mappe.«

      Uff! Das war Walli Winzer nun doch zu hoch. Gedanklich begann sie sich jetzt auszuklinken. Was war denn ein Formenkanon? Sie kannte Kanon nur von der Musikstunde. Das war, was sie in der Schule mehrstimmig miteinander gesungen hatten. Ja, das hatte ihr immer gut gefallen. Aber ein Kanon mit Teppichen? Was sollte das sein?

      Sie versuchte dennoch weiterhin gute Miene zur Ausführung zu machen. Auch wenn diese sie langsam zu ermüden begann. Zugegeben, der Totaleinsatz und die Begeisterungsfähigkeit dieses gut aussehenden morgenländischen Prinzen gefielen ihr. Also versuchte Walli Winzer bei der Sache zu bleiben.

      »Und jetzt zeigen wir Ihnen noch unseren größten und kostbarsten Teppich aus Ostanatolien. Jahrelang arbeiteten viele Menschen an ihm. Er war für einen mächtigen Sultan bestimmt, der sein Reich einen wollte, und überlebte viele Jahrhunderte. Weshalb und wie er nahezu unbeschädigt so lange Zeit überstehen konnte, ist eines der Geheimnisse, die ihn bis zum heutigen Tag umgeben. Auch die Symbolik der Muster gibt Experten seit jeher Rätsel auf. Sein Mythos ist noch nicht erforscht.«

      Walli Winzer war bewegt, als sie das hörte. Ein Mythos barg Faszinierendes. Etwas, das man Presse und dem Publikum gut weitervermitteln konnte. Das für Aufsehen sorgen würde – neben der Künstlerin natürlich.

      Diesmal stellte sich eine ganze Riege von Männern in Position, um den Teppich in die richtige Position zu bringen. Dann reihten sie sich im Abstand von einem Meter nebeneinander auf. Der mittlere machte ein Zeichen, worauf alle den Teppich mit einem kräftigen Ruck nach vorne schüttelten. Schwungvoll rollte er auf der weiten Fläche des Schaubodens aus, aber das tat er anders als seine Artverwandten zuvor. Als er sich bis kurz vor Walli komplett entrollt hatte, war da noch etwas anderes, das die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich lenkte.

      Das Teppichmuster anzusehen, interessierte augenblicklich niemanden mehr. Der Schrei einer jungen Frau durchfuhr den Raum. Es war Adile Gül. Schockstarre erfasste sie.

      Vor ihr lag ein Mann. Nicht nur Walli Winzer erkannte ihn. Alle hier taten das.

      Es war Manfred Tuchner.

      5. Kapitel

      »Schnell! Ein nasses Tuch. Habt ihr nicht gehört: Wir brauchen ein nasses Tuch und ein Glas Wasser. Sofort!«

      »Sie bewegt sich nicht, aber sie atmet.«

      Adile Gül lag am Boden. Ihren Kopf hatte man sanft auf eine Teppichrolle abgelegt. Der Anblick des toten Mannes hatte ihr so zugesetzt, dass sie plötzlich in sich zusammengesunken war. Walli Winzer hatte neben ihr gestanden und sie noch rechtzeitig auffangen können. Den unsanften Aufprall mit dem Kopf auf dem harten Parkettboden konnte sie dadurch gerade noch so verhindern.

      Geschäftsführer Eraydin Turan kniete hilflos neben der jungen Frau und starrte sie unentwegt an. Als müsste er sich auf das Schlimmste gefasst machen. Ob die umstehenden Männer tatsächlich auf seinen vorherigen Zuruf reagierten, darauf achtete er nicht. Der Anblick der leblosen Adile setzte ihm dermaßen zu, dass er damit rang, nicht selbst das Bewusstsein zu verlieren.

      »Jetzt machen Sie mal und fangen sich wieder. Das geht so doch nicht. Eine Leiche und eine Ohnmächtige reichen mir für heute.« Walli Winzer, die Adile Güls Kopf streichelte, klopfte plötzlich dem Teppichhändler auf die Schulter, um ihn bei Bewusstsein zu halten. Der schwankte daraufhin ein wenig, fand aber sein Gleichgewicht wieder. Im selben Moment blickte er zur Seite auf den Toten.

      Keiner der umstehenden Männer war unterwegs, um ein Tuch zu besorgen. Nur eine junge Frau kam damit angelaufen und reichte es Walli Winzer. Diese legte es Adile auf die Stirn und tätschelte ihre Wange. Langsam kam sie wieder zu sich. Noch benommen wollte sie sich aufrichten, aber es gelang ihr nicht. Vom Schock zuvor war sie noch zu geschwächt.

      Im Nebenraum breitete sich Tumult aus. Es klang fast wie ein Handgemenge. Die im Raum verbliebenen Männer eilten hinaus, nur um wieder zurückgedrängt zu werden. Konfus stießen sie einander an und wichen vor Bülent Yüksel zurück, der einen großen hageren Mann mit groben Hieben vor sich hertrieb. »Ich habe ihn im Lager erwischt, als er gerade hinauslaufen wollte.«

      Yüksel versetzte ihm einen kräftigen Stoß, der den Mann Halt suchen ließ. Mit seinen Armen konnte er gerade noch sein Gleichgewicht wiederfinden und landete vor Walli Winzer.