Isabella Archan

Ein reines Wesen


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Sie wird versorgt. Und du, du kommst jetzt mit mir und wir gehen einen Happen essen.«

      Harros Ärger verschwand so schnell, wie er erschienen war. Natürlich hatte Tine recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Willa erwachte, änderte sich nicht durch seine Anwesenheit. Er streckte sich, seine Gelenke knackten. Er schüttelte seine Beine aus.

      »Einverstanden, lass uns gehen.«

      Tines Lächeln wurde breiter.

      »Gut so.«

      »Ich will mich noch verabschieden, ja? Dann komme ich nach.«

      »Ich warte am Haupteingang auf dich. Aber nicht ewig.«

      »Klar.«

      Sie nickte und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

      Der Regen prasselte und die Geräte summten, das stetige Piepen veränderte sich nicht. Willa lag in ihrem Bett wie Dornröschen, dieser Vergleich fiel ihm wieder ein. Keine hundert Jahre, aber Wochen, sogar Monate, mochte es noch dauern, wenn nicht doch das Schlimmste eintrat. Willa hätte ihn wie Tine ermutigt, sein Leben wieder aufzunehmen. Seiner Arbeit mit Konzentration nachzugehen. Keine Frage.

      Für eine Minute konnte sich Harro dennoch nicht bewegen. In seinem Kopf schrie er, brüllte er: Willa! Wach auf! Sofort! Oder ich gehe.

      Die Tür wurde erneut geöffnet. Harro aus seiner Starre katapultiert. Sein Herzschlag beschleunigte sich, jetzt war er tatsächlich verärgert.

      »Tine, ich habe dir doch gesagt, ich komme gleich nach.«

      »Verzeihen Sie«, es war nicht Tine Latisch, die ins Zimmer kam, sondern einer der Krankenpfleger. »Sie sind doch vom Rechtsmedizinischen Institut?! Der Leiter, Doktor deNärtens, nicht?«

      »Ja, der bin ich.«

      Der junge Mann räusperte sich.

      »Ich habe die letzten Tage öfters darüber nachgedacht, Sie anzusprechen.« Er wirkte verlegen. »Also, um auf den Punkt zu kommen: Ich war auf der Universität, bei einem Ihrer Vorträge. Vor dem Sommer. Sie hatten über die neuen Möglichkeiten der Todeszeitbestimmung mit digitalen Hilfsmitteln referiert. Es war öffentlich zugänglich und deshalb konnte ich dabei sein. Es war toll.«

      »Kommen Sie bitte zur Sache.«

      »Verzeihen Sie. Ich habe Dienstschluss und wollte die Gelegenheit beim Schopf packen und Sie etwas fragen. Könnte ich aus meinem Job heraus einen weiteren Werdegang an der Rechtsmedizin machen? Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Es ist okay, als Pfleger zu arbeiten.«

      »Ich verstehe Sie durchaus richtig, junger Mann.« Harro überlegte kurz. »Eine meiner Mitarbeiterinnen, Tine Latisch, hat ihren Beruf ebenso über den zweiten Bildungsweg in Angriff genommen. Im Moment wartet sie am Haupteingang. Eigentlich auf mich, aber sie beide könnten stattdessen einen Happen essen gehen und sich dabei unterhalten. Eine großgewachsene hübsche Frau. Sprechen Sie sie an, erzählen Sie ihr, was ich eben vorgeschlagen habe. Okay?«

      »Wenn Sie meinen? Geht das denn?«

      »Klar doch. Ich werde doch noch etwas länger hier bleiben.«

      Der Pfleger ließ sich von Harro aus dem Zimmer schieben.

      Zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte Harro.

      Ihm war bewusst, dass Tine sich den Abend anders vorgestellt hatte, aber er konnte Willa nicht verlassen. Noch nicht. Vielleicht würde er in einer halben Stunde zu den beiden dazu stoßen. Tine konnte ihm per SMS mitteilen, in welches Lokal es sie verschlagen hatte. Er würde nachkommen. Hungrig war er ohnehin nicht. Unfassbar, wo er sonst all seine Probleme und seinen Stress mit Essen löste.

      Hoffnung, dachte er, Hoffnung ist eine wundervolle Betrügerin.

      Er setzte sich zurück auf die harte Sitzfläche.

      Der neu transformierte Schmetterling bewegte sich umsichtig.

      Zuerst langsam in Schleifen den Gang entlang.

      Trotzdem stieß er gegen einen Rollstuhl, den einer der Pfleger achtlos neben der Toilettentür hatte stehen lassen. Der Schmerz im unteren Bein hätte ihn fast aufschreien lassen.

      Er bedeckte seine Lippen. Das Latex der Handschuhe fühlte sich staubig an und roch nach verdorbenen Eiern. Zeit, sie auszuziehen. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er seine bloßen Hände, die eben einen Mord begangen hatten, und sah doch nur die feinen schwarzen Beinpaare eines Insekts, an denen sich dornenartige Haken befanden.

      Illusion und Realität überlappten sich. Wieder schlug er mit den Flügeln und wagte es, auf seiner Flucht Geschwindigkeit aufzunehmen.

      Nach der offenen Doppeltür kam eine Treppe. Auf dem Weg nach unten schwirrte er in der Luft, wechselte in einen Zickzackkurs. Auf dem nächst unteren Stockwerk lagen die Intensivzimmer.

      ›Zutritt nach Anmeldung‹, war auf einem Schild zu lesen. Daneben ein Klingelknopf. Doch die Anmeldung war verwaist. Während des Schichtwechsels und so spät am Abend war die Chance hoch, dass der Schmetterling ungesehen weiterfliegen konnte.

      Wenn er es schaffen würde, auch diesen Gang zu durchqueren, kam er ins hintere Treppenhaus. Er wollte zu einem der Personalausgänge, der von dort aus zu erreichen war. Diese Tür ließ sich ausschließlich von innen öffnen. An der Stelle saß kein Pförtner.

      Der Schmetterling versuchte sich daran zu erinnern, wer ihm von all den Dingen und Namen, die er wusste, erzählt hatte. Wer hatte ihm das Krankenhaus gezeigt? Ein Bild tauchte auf. Eine Gestalt. Liebe. Schmerz. Hass.

      Stopp. Zuviel.

      Nicht mehr denken. Nicht mehr fühlen. In seinem Hirn löschte er das Leben vor der Transformation. Im Grunde war es nicht wichtig. Nicht im Moment. Das Gebäude ungesehen zu verlassen, war sein Ziel.

      Doch noch bevor er ans Ende des Flurs kam, gab es eine Abfolge von unerwarteten Ereignissen.

      Zuerst war ein markerschütternder Schrei von oben zu hören.

      Der Schrei, nein, das Schreien, denn bei einem blieb es nicht, würde ziemlich rasch die Menschen aus den Stationen und Zimmern locken. Zumindest die, die fähig waren, ihre Betten zu verlassen. Samt denen, die sie betreuten.

      Dass die tote Frau so schnell entdeckt worden war, erschreckte den Schmetterling nun doch. Panik durchflutete ihn.

      Seine Flügel schienen ihm den Dienst zu versagen, schwer wie Blei zu werden. Seiner Fortbewegung beraubt, erstarrte der Schmetterling und hielt sich an einer der Türklinken fest, um nicht zu Boden zu gehen.

      Genau diese Tür wurde aufgerissen und der Schmetterling fiel in die Arme eines Mannes. Ein Zusammenstoß ihrer Köpfe folgte.

      »Oh Gott, das tut mir leid.« Der Fremde räusperte sich. »Haben Sie sich verletzt?«

      Der Schmetterling wollte antworten, doch sein Rüssel war nicht dafür gemacht. Er bewegte also seinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück.

      »Hat da jemand geschrien?«

      Der Mann sah sich um.

      Das Insekt bog seinen Oberkörper zurück, um sich aus der unfreiwilligen Umklammerung zu befreien. Jede Sekunde konnte der Unbekannte die Transformation erkennen. Und dann? Würde er ebenfalls zu schreien beginnen?

      »Ist mit Ihnen wirklich alles okay?« Noch eine Nachfrage des Mannes.

      Bevor der Schmetterling mit seinem Kopf von oben nach unten und wieder zurück wippen konnte, folgten nächste Rufe von oben. Diesmal konnte man »Hilfe, Hilfe« verstehen.

      Zwei Ärzte kamen den Gang entlanggelaufen, blass sahen sie aus, als wären sie eben aus dem Schlaf gerissen worden. Sie hasteten im Gleichschritt Richtung Treppenhaus. Weitere Türen öffneten sich. Der Fremde ließ los und schloss sich den Laufenden an, ohne zurückzusehen.

      Der Schmetterling huschte mit letzter Kraft in das Krankenzimmer hinein. Kaum drinnen gab sein Körper nach. Er lehnte sich an