Isabella Archan

Ein reines Wesen


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      Hier drinnen waren die Geräusche gedämpft.

      Es herrschte keine Stille, die gab es in einem Intensivzimmer nie. Ein stetiger Piepton und ein regelmäßiges Klacken waren zu hören. Leise Atemgeräusche. Der Schmetterling schloss sich dem fremden Atemrhythmus an, atmete ebenfalls ein und wieder aus. Immer weiter ein und aus, um die Schwere abzuschütteln, um die Kontrolle über seinen Körper wiederzuerlangen.

      Auf den Schwingen der Nacht gilt es zu entfliehen, dachte er.

      Ein Anflug von Humor gab ihm die nötige Energie, sich vom Boden hochzustemmen. Er würde noch ein paar Minuten in diesem Zimmer ausharren, bis sich die Menschen draußen alle zum Schauplatz des Verbrechens aufgemacht hatten, und dann verschwinden.

      Eine Frage stellte sich. Wie gefährlich konnte eine mögliche Entdeckung durch den Fremden, der den Schmetterling aufgefangen hatte, werden? Überhaupt keine Gefahr. Von ihm war nichts zu befürchten. Er war durch die Schreie in seiner Aufmerksamkeit völlig abgelenkt gewesen.

      Der Schmetterling trippelte näher ans Krankenbett.

      Jetzt konnte er die Frau darin sehen.

      Die Haut war bleich. Den Kopf, der auf dem Kissen ruhte, umspielten dunkle Locken. Die Schläuche, die von Nase und Mund zu den lebenserhaltenden Geräten führten, wirkten wie Schlangen, die sich zu dem schmalen Körper unter dem Laken geschlichen hatten.

      Der Anblick berührte den Schmetterling. Anders als für die Tote vorhin, empfand er Mitleid.

      Eine der dunklen Locken war über die Stirn und Wange der Patientin gerutscht und der Schmetterling beugte sich vor. Er streckte sein Insektengliedmaß aus, um die Haare zurückzuschieben und berührte die Haut der Schlafenden. Weich. Kühl und zart. Unter den geschlossenen Lidern rollten die Augäpfel.

      Was für Träume sie wohl heimsuchten? Welche Gestalt sie im körperlosen Nichts schwebend annehmen mochte?

      Der Schmetterling schloss nun ebenfalls die Augen. Blieb über der Frau gebeugt stehen, verharrte eine Weile wie in Trance. Als wäre mit der Berührung ein Stichwort gefallen, setzte die Rückverwandlung ein, die ohne weitere Komplikationen ablief. Er hatte sich entschlossen, in Menschengestalt weiter unterwegs zu sein.

      Einige Minuten später verließ eine Person das Zimmer, ging den Flur entlang bis zum Notausgang.

      Erneut unbeobachtet.

      Harro schreckte hoch.

      Er war eingedöst, während er Willas Hand gehalten hatte. Jetzt hatten ihn Geräusche von draußen geweckt. Nicht die üblichen Schritte oder das Geschirrgeklapper. So spät am Abend gab es keine Essenausgabe mehr und nur wenige Leute waren in den Gängen unterwegs. Die Besuchszeit war ohnehin vorbei, er hätte längst das Zimmer verlassen müssen. Er ging davon aus, dass die Nachtschwester ihn mit hängendem Kinn und geschlossenen Augen sitzen gesehen und ihn aus Mitleid nicht verscheucht hatte.

      Langsam nahm sein Verstand seine Funktionen wieder auf.

      Tine hatte sich übers Handy gemeldet, der junge Pfleger hatte sie tatsächlich angesprochen. Harro hatte beide zum Essen fortgeschickt und versprochen, nachzukommen. Eine halbe Stunde hatte er sich zusätzlich herausnehmen wollen, doch in der Zeit musste er eingeschlafen sein.

      Er ordnete das Geräusch ein.

      Es war ein Schrei gewesen.

      Er warf einen schnellen Blick zur schlafenden Willa. Bestand Gefahr für sie? Konnte es sein, dass ein Feuer ausgebrochen war? Hatte es einen Alarm gegeben?

      Ein nächster langgezogener Schrei erklang von draußen. Weiter entfernt. Diesmal gab es keinen Zweifel. Etwas war geschehen oder geschah immer noch.

      Harro stolperte hastig zur Tür, riss sie auf und wollte hinausstürzen. Im selben Moment spürte er, wie jemand gegen ihn stieß. Kopf gegen Kopf. Automatisch fing er den Körper vor ihm auf.

      »Oh Gott, das tut mir leid.« Er räusperte sich. »Haben Sie sich verletzt?«

      Die Person in seinen Armen schüttelte den Kopf. Beugte sich zurück.

      »Hat da jemand geschrien?« Harro sah kurz hoch, wieder zurück. »Ist mit Ihnen wirklich alles okay?«

      Diesmal ein Nicken und der Versuch, sich aus Harros unfreiwilliger Umarmung zu befreien.

      Eine neue Abfolge von Schreien setzte ein, die signalisierten, dass hier irgendwo nichts okay war. Harro meinte »Hilfe, Hilfe« zu verstehen. Zwei Ärzte kamen gelaufen, Harro kannte einen vom Sehen, aber keinen von beiden hatte er je bei Willa angetroffen.

      Immer mehr Türen öffneten sich.

      Ohne sich weiter um die Person zu kümmern, schloss sich Harro ihnen an.

      Sie liefen den Gang entlang, durch die Flügeltür, die Treppen hoch. Einen Halbstock höher kam ihnen eine Krankenschwester entgegen. Sie stoppte keuchend.

      »Frieda hat Karin gefunden. Lutz ist auch da. Und Mike. Schnell, kommen Sie. Karin, es geht um Karin. Oh Gott, oh Gott.«

      Vor der ersten Tür im nächsten Flur konnte Harro einen Pfleger sehen, der sich an der Wand abstützte.

      »Frieda will nicht herauskommen. Sie beginnt immer wieder zu schreien.« Seine Stimme klang heiser. »Ich konnte nicht drinbleiben. Sorry. Aber Lutz ist noch im Zimmer. Und zwei Patienten. In ihren Betten. Sie haben Todesangst.«

      »Was ist passiert, zum Teufel? Lassen Sie mich durch.«

      Einer der Ärzte schob den Pfleger zur Seite und verschaffte sich Zutritt. Der zweite drehte sich zu Harro um.

      »Wer auch immer Sie sind. Sie dürfen nicht mit hinein.«

      »Harro deNärtens. Leiter der Rechtsmedizin Köln. Vielleicht kann ich helfen.«

      »Doktor Daniels, Ingo Daniels.«

      »Was für eine verdammte Scheiße«, rief Arzt Nummer eins aus dem Zimmer.

      Statt Harro weiter den Zutritt zu verwehren, schob Dr. Daniels ihn jetzt wie ein Schutzschild vor sich her. Aus dem Zimmer ertönte ein nächster einzelner Schrei, der hoch war und schrill und in Harros Ohren ein Klingeln verursachte.

      Die Szenerie im Krankenzimmer war gespenstisch. Das helle Neonlicht ließ die Gesichter die Anwesenden kalkweiß erscheinen. Zwei Betten waren belegt. Einer der beiden männlichen Patienten mit einem eingegipsten Bein zog sich gerade am Galgen hoch und stöhnte. Der andere saß bereits kerzengerade aufrecht und blickte verständnislos um sich.

      Auf dem Boden, neben dem vorderen Krankenbett, lag eine Frau in unnatürlich gekrümmter Haltung.

      Einen halben Meter davor kniete eine andere, die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein weiterer Mann in einem Pflegeranzug war anwesend, er stand wie angewurzelt, bewegte sich nicht. Arzt Nummer eins hatte die Hände in die Hüften gestemmt, fluchte nicht mehr.

      Von dem gekrümmten Körper am Boden konnten die Hilferufe nicht gekommen sein.

      Die Frau war eindeutig tot. Nicht nur das. Sie war, ebenso glasklar, ermordet worden. Erwürgt. Ihre Augäpfel waren hervorgetreten und ihre Zunge hing wie eine fette Made unnatürlich dick über ihren blauen Lippen. Dazu kamen die typischen Würgemale am Hals.

      Dr. Daniels beugte sich über die zweite Anwesende, die vor dem Opfer kniete. »Frieda, bitte, kommen Sie. Hilfe ist da. Wir sind da.«

      Er versuchte sie hochzuziehen, doch sie kauerte sich stattdessen enger zusammen und begann zu wimmern.

      »Was sollen wir tun?«, fragte der Arzt Harro, als wären die beiden Mediziner Briefträger oder Barkeeper, die eben ihre erste Leiche entdeckt hatten.

      »Als erstes kümmern wir uns um die Lebenden.« Harro übernahm die Führung. »Lassen Sie den Pfleger eine Trage holen und Frieda hier aus dem Zimmer bringen. Zuerst braucht sie eine Beruhigungsspritze.«

      Der erstarrte Pfleger taute abrupt auf und gehorchte,