Isabella Archan

Ein reines Wesen


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– Am Apparat. Was gibt es?« Er wandte sich seinem Team zu. »Es ist das Krankenhaus.«

      Marielle, Frank und Harro schwiegen und lauschten. Doch außer dreimaligen kurzen Nachfragen von Kraus, ließ sich das Gespräch nicht mitverfolgen.

      »Ich danke Ihnen. Ja, wir kommen.«

      Kraus steckte sein Mobilteil in seine Jeans zurück.

      «Was ist?«

      Marielle und Frank fragten gleichzeitig.

      Der Blick des Hauptkommissars blieb bei Harro hängen.

      »Ich weiß nicht, warum die jetzt ausgerechnet mich angerufen haben. Vielleicht, weil sie eine Ermittlerin ist. Es geht nicht um unsern aktuellen Mord, Leute. Es geht um Willa.«

      Treiben im Grau, ein Grau in Schattierungen von hell zu dunkel.

      Zeit gab es nicht, Sekunden hätten Tage sein können, ein Jahrzehnt wiederum eine Sekunde. Es gab kein Kalt und kein Heiß, das Grau war eine lauwarme Suppe. Trotzdem fühlte sie sich wohl darin. Dieses Treiben gefiel ihr.

      Dazu die Taubheit in ihr und um sie herum.

      Sie wusste, dass es draußen eine Welt gab. Manchmal nahm sie Schatten dahinter wahr, manchmal Gemurmel. Einmal meinte sie ein Miauen zu hören, das trieb sie voran an die Ränder ihrer Einheitswelt. Aber sie war zu schwach, um darüber hinauszustoßen. Denn außerhalb lauerte Gefahr. Unbestimmt, nicht greifbar. Im Grau war sie sicher.

      Allmählich stiegen Erinnerungen auf.

      Manchmal glasklar, wenn auch winzig, kamen diese inneren Bilder aus der Mitte der grauen Wüste.

      Sie sah sich selbst als Kind, an der Hand ihrer Mutter Anna. Wie müde Mama immer aussah. Und wie traurig. Wäre da nicht Onkel Willi, Mamas Bruder, der im Gegensatz zur alleinerziehenden Anna immer heiter und voller Elan schien, wäre die kleine Familie einfach nur ein trübsalgeschwängertes Duo gewesen. Willa-Mausi-Mädel, sein Kosename für sie. Er war Ersatz für einen Vater, den sie so gut wie nicht kannte. Onkel Willi, der Held ihrer frühen Kindheit.

      Die Szene blätterte sich um, übersprang ein paar Jahre und zeigte Willas geliebten Onkel bei seiner Verhaftung. Nachdem er seine Verlobte im Affekt erschlagen hatte und ins Gefängnis musste. Enttäuschung und Wut auf Onkel Willi ersetzen die Zuneigung.

      Zehn war sie, zehn Jahre alt und schon fertig mit der Welt.

      Ihre erste Liebe, der Michi, zeigte sich in den Bildern, die Verlobung und das Ende der Verbindung. Ihr Entschluss, zur Polizei zu gehen, wie sie es ihrer Mutter mitgeteilt hatte. Die Ausbildung, das Studium, der Abschluss samt der Urkundenverleihung.

      Inspektorin Willa Stark. Das war sie. Damit kam sie zurecht.

      Schneller drehte sich das Bilderkarussell, die Kollegen, die Mordfälle, die privaten Affären, der Wechsel von Graz nach Köln.

      Dann er.

      Mit ihm der Sturz ins schwarze Loch der Bewusstlosigkeit.

      Koma, dachte sie. Ins Koma geprügelt, geschlagen, gestoßen, dachte sie weiter. Dann stoppte sie, schob die Bilder dazu weg.

      Sie begann den Kreislauf ihrer Erinnerungen erneut. Wieder und wieder.

      Bis sich eine Veränderung einschlich.

      Langsam verbanden sich die Abläufe in ihrem Kopf, verschmolzen miteinander. Es folgten Gefühle, ganz primär. Zuerst der Hunger. Ein entferntes Grollen, einem schwachen Donnern gleich. Einmal ein Stich. Ein Pieksen.

      Aus dem Nichts erschien unerwartet der Punkt. Ein weißer Punkt. Weiß und abgegrenzt klar. Nach einer Unendlichkeit oder einer kleinen Weile bewegte sich der weiße Punkt auf sie zu oder sie strebte zu ihm hin. Er wurde heller. Das Weiß tat weh.

      Hallo?, fragte sie ohne ihre Stimme zu benutzen. Ist? Jemand? Wo? Ich?

      Hell und heller, wund und wunder, wurde es zwischen den Ritzen ihrer Welt.

      Na gut, dann Servus, dachte sie.

      Das erste, was Willa sah, als sie die Augen öffnete, war ihr Kater Jimmy.

      Es war also alles okay, alles paletti, nur ein böser Traum.

      Wie bei Alice im Wunderland die Grinsekatze verschwand Stück für Stück das Tiergesicht. Mit dem nächsten Blinzeln verwandelte sich Jimmys Schnauze in das runde Gesicht von Rechtsmediziner Harro deNärtens. Kugelrund schien er zu sein.

      Doch bevor sie ihm ein Zeichen ihres Erwachens geben konnte, löste sich auch Harro auf.

      Eine Weile geschah nichts.

      Bruchstücke kamen und setzten sich neben sie.

      Die Ermittlung.

      Der Fall.

      Er.

      Willa schnappte nach Luft. Der nächste Schock erwartete sie. In ihrem Hals steckte etwas fest, das sie würgte und einem Alien gleich nicht zu ihrem Körper gehörte. Das Ding musste weg. Es erstickte sie.

      Auch in der Nase, über den Wangen schien sich etwas festgesetzt zu haben.

      Runter damit. Raus damit.

      Noch unfähig, sich zu bewegen, konnte sie sich nur wünschen, dass die Qualen verschwinden sollten. Aber die Zeiten, wo das Wünschen geholfen hatte, schienen vorbei.

      Was machte sie hier, in diesem unbekannten Raum?

      Sie merkte, dass sie schwitzte. Schweißperlen liefen ihr über das Gesicht, den Hals herunter und verloren sich. Schon jetzt wusste sie, dass sie sich in dieser Umgebung niemals so wohlfühlen würde wie im Grau, aus dem sie vertrieben worden war. Warum lag sie nicht wenigstens in ihrem eigenen Bett?

      Ein Galgen baumelte über ihr. Krankenhaus, dachte sie, und hasste diesen Ort. Sie war wieder bei Sinnen. Kein Grund, sie weiter hier zu behalten. Ihr steirischer Sturkopf hatte schon schlimmere Attacken ausgehalten.

      Zeit zu gehen.

      »Frau Stark? Hallo? Können Sie mich hören?«

      Ein neues Gesicht. Lang, schmal, bleich. Es blieb vor Willas Augen bestehen, wurde konturierter, klarer.

      Ich muss hier raus, sofort. Ich kann kaum atmen. Ich will wissen, warum ich in einem Krankenhaus bin.

      Willa versuchte die Hände zu heben. Ein einziger Finger gehorchte ihr. Sie begann mit den Augen zu rollen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

      »Ganz ruhig. Ganz ruhig, Frau Stark. Ich hole Hilfe.«

      Sie sah einen massigen Körper, der sich über sie beugte und der überhaupt nicht zu dem schmalen Kopf passen wollte. Hände legten sich auf ihre Oberarme.

      »Gleich kommt ein Arzt. Bitte, verhalten Sie sich ruhig.«

      Nichts hiervon gefiel Willa. Aber sie hatte nicht die Kraft, sich zur Wehr zu setzen.

      Sie hörte, wie sich eine Tür öffnete.

      »Sie haben geklingelt?« Eine Frauenstimme.

      »Frau Stark ist wach.«

      Noch jemand kam dazu. Andere Finger berührten sie.

      Holt das Scheißzeug aus meinem Hals, aus meiner Nase, von meinem Gesicht, wollte sie rufen, aber nur ein Gurgeln entwich.

      »Dr. Kolb wird in wenigen Augenblicken hier sein.«

      Die zweite Gestalt verschwand. Die Tür fiel zurück ins Schloss.

      »Haben Sie gehört, Frau Stark, der Arzt ist auf dem Weg.«

      Das schmale Gesicht mit dem massigen Körper setzte sich auf die Bettkante. Immer noch konnte Willa nicht sagen, ob die Person männlich oder weiblich war. Nur, dass sie grün gekleidet war. Willa war zurück in der Welt der Farben.

      Sie versuchte erneut, mit beiden Händen nach oben zu greifen, sie wollte sich an dem Galgen festkrallen, sich hoch zum Sitzen ziehen.