Isabella Archan

Ein reines Wesen


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begann, die Beine zu dehnen und zu strecken.

      »Schöner Tag heute, nicht? Spätsommer-Traumwetter-Periode. Tolles Wort für Scrabble, wenn es anerkannt würde.«

      Neben ihr war ein älterer Herr zum Halten gekommen.

      »Geht so«, antwortete Willa knapp.

      Eine Anmache am Morgen, bevor sie überhaupt ihren ersten Kaffee getrunken hatte, von einem Herrn, der gut und gerne dreißig Jahre älter als sie war, konnte sie nicht gebrauchen.

      »Die nächsten Tage sollen noch heißer werden.« Er ließ nicht locker. »Da tut Erfrischung gut. Mit einem Eis zum Beispiel.«

      Er zwinkerte ihr zu und Willa bekam Kopfschmerzen.

      »Wenn’s Abkühlung brauchen, gehen Sie in den Saunabereich und springen Sie kopfüber ins Eisbecken. Aber quatschen’s mich nicht an.«

      Der ältere Herr zog seine weißen Augenbrauen hoch und seine kahle Stirn kraus.

      »Ich wollte nur nett sein am Morgen.«

      »Und ich mag so was nicht, verstehn’s mich, kapische?«

      »Sie stammen wohl aus dem südlichen Sprachbereich, oder?«, murmelte der Mann, als würde das ihre Reaktion erklären, und stieß sich ab.

      Darüber nun musste Willa schmunzeln. Zugleich dachte sie an ihre aktive Ermittlerzeit. Fräulein Ösi, das war ihr Spitzname im Team. Gewesen.

      Et es wie et es, sagte eines der Kölschen Grundgesetze. Ein Spruch, den sie nicht mehr hören konnte. Vielleicht hatte das Saarland bessere Weisheiten zu bieten.

      Sie beendete die Übungen und begann eine neue Bahn. Auf dem Rücken. Ihre Arme breiteten sich aus, ihre Beine bewegten sich rhythmisch und in einem gleichmäßigen Tempo.

      Über ein Jahr. Solange war sie zurück aus dem Koma.

      Ich bin nicht mehr ich selbst, dachte sie. Nur als Meerjungfrau, auf dem Rücken treibend, gibt es mich noch.

      Sie stellte sich vor, dass das Becken kein Ende haben würde. Sie würde, mit dem Gesicht in den Himmel gerichtet, schwimmen und schwimmen, über den Rand der Welt hinaus.

      Dorthin, wo es keine verdrängten Erinnerungen, keine Hüftschmerzen und keine älteren Herrn gab, die nach einer frühmorgendlichen Zweisamkeit suchten.

      Bevor sich Willa in die Klinik begab, machte sie einen Zwischenstopp in der Innenstadt. Ein nächster Kaffee musste noch vor der Untersuchung sein. Außerdem wollte sie sich im Zentrum umsehen.

      Das Taxi setzte sie an der Alten Brücke ab. Sie stieg aus und ihr Blick wurde erst von der Mauer und dem Schloss auf der linken Uferseite, dann vom Bau des Staatstheaters vor ihr angezogen. Sie zückte ihr Smartphone und las über das barocke Schloss mit seinem Gewölbekeller und den Ausstellungsräumen des Historischen Museums Saar nach. Das Theater hatte seine Spielzeiteröffnungspremiere noch vor sich und beeindruckte Willa mit der Vielfalt des Spielplans. Oper und Tanz waren zwar nicht ihre bevorzugten Kulturevents, aber sich einmal ein Stück auf der großen Bühne anzusehen, schien verlockend.

      Ein angenehmes Touristengefühl überkam Willa. Wenn sie schon unterwegs war, wollte sie die Schwere der letzten Zeit einmal wenigstens zur Seite schieben.

      Nach Überquerung der Straße kam sie in den Innenstadtbereich. Das Kopfsteinpflaster ließ sie vorsichtiger vorangehen. Doch, was sie sah, mochte sie auf Anhieb.

      Am St. Johanner Markt waren Marktstände aufgebaut und es herrschte ziemliche Betriebsamkeit. Auf den Stufen des Marktbrunnens saßen ebenso Leute, wie in den Lokalen rund um den Platz. Statt sich sofort für eines zu entscheiden, spazierte Willa weiter. Sie hielt sich links und lief einmal im Kreis. Die schmalen Gassen, die Häuser, die Läden – alles gefiel ihr.

      Schließlich entschied sie sich für das Kulturcafé und genoss den Trubel um sie herum. Lange hatte sie sich nicht mehr so entspannt gefühlt.

      Kurz wünschte sie sich Harro an ihrer Seite, ein spannendes Gespräch mit ihm, sogar eine seiner langen Ausführungen würde sie sich mit Muse anhören. Sie machte zwei Fotos und schickte sie ihm. Es dauerte keine drei Minuten und er antwortete ihr mit einem Smiley. Ein Hund hechelte an Willa vorbei, ein Kind an der Hand seines Vaters verlangte lautstark nach Eis.

      Es war eine gute Idee gewesen, sich für Doktor Ira Steiner und Saarbrücken zu entscheiden.

      Der Gedanke an ihre bevorstehende Untersuchung dämpfte ihre gute Laune. Sie sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit. Langsam wanderte sie über den Markt zurück bis zum Bühneneingang des Theaters und rief sich erneut ein Taxi. Während sie wartete, sah sie sich die Fotos in den Schaukästen an. Vielleicht war ja die ganze Welt tatsächlich nur eine Bühne, wie Shakespeare es eine seiner Figuren sagen ließ. Darüber musste sie lächeln.

      Eine Stunde später war Willa in einer ganz anderen Verfassung.

      »… mit einem neuen Hüftgelenk.«

      Willa versuchte den Ausführungen der Ärztin zu folgen. Sie war froh, endlich von der Behandlungsliege zu einem der zwei Besuchersessel wechseln zu können. Sie war zuerst stehend und am Ende liegend von Dr. Steiner durchgecheckt worden. Bei den durch die Ärztin durchgeführten Drehbewegungen am Hüftgelenk war der stechende Schmerz erneut aufgeflammt. Willa hatte sich auf die Lippen gebissen, um nicht aufzuschreien.

      Der Raum wirkte freundlich und nicht wie ein Krankenzimmer, die Bilder an den Wänden zeigten Landschaftswege im Wechsel der Jahreszeiten. Ira Steiner trug eine beige Stoffhose mit einer gelben Bluse darüber und sah mehr wie eine Frau aus, die sich mit angenehmeren Dingen beschäftigte als mit kaputten Knochen und Gelenken.

      Der Kaffee stieß Willa bitter auf. Nun sehnte sie sich doch nach Köln und ihrer Wohnung und vor allem ihrem Kater Jimmy. Selbstverständlich war bei der Frage nach dem Verbleib des Haustiers ebenfalls Harro eingesprungen. Kater und Rechtsmediziner waren durch Willas langen Ausfall ohnehin ein eingespieltes Team.

      Plötzlich wurde sie wütend auf Harro, den guten Freund, den Helfer, den Mann, der in scheinbar allen Lebenslagen ihre Stütze geworden war. Ihre Eigenständigkeit war ihr immer wichtig gewesen und nun lief nichts mehr, ohne dass sie Bitte und Danke sagen musste. Sie schüttelte den Kopf, es war ungerecht ihm gegenüber.

      Sie sah aus dem Fenster des Behandlungszimmers in den Sonnenschein und wünschte nichts mehr als eine Rückkehr zu ihrem alten Leben, zu Mord und Totschlag und Verbrechensaufklärung. Alles, nur nicht das hier.

      Raus- und hinunterspringen wäre vielleicht das Beste, dachte sie. Arme ausbreiten, fliegen und dann wäre alles gut.

      Nein – wieder das Kopfschütteln – aufgeben war keine Option für sie. Niemals gewesen.

      »Eine Operation wäre für mich nur der allerletzte Ausweg, Frau Doktor.« Willa räusperte sich. »Ich will nicht noch Monate oder Jahre rekonvaleszent sein.«

      Ira Steiner sah von ihren Aufzeichnungen hoch.

      Die schlanke rothaarige Frau hatte sich Willa gegenüber auf einem Drehstuhl niedergelassen und sich während der Anamnese und des folgenden Gesprächs Notizen gemacht. Wie eine Ermittlerin, die sich während der Vernehmung ihre Anmerkungen aufschrieb.

      »Inspektorin Stark. Wer ein künstliches Hüftgelenk bekommt, musste bislang mit einer langen Genesungsphase rechnen, das stimmt. Doch dank der von mir bevorzugten Methode ist das Vergangenheit. Sie können die Hüfte nach der OP in der Regel bald voll und in Ihrem Alter sogar sofort etwas belasten. Diese minimal invasive Hüft-OP könnte Sie schneller fit machen, als weitere Therapien, die nicht anschlagen.«

      »Ich hatte früher nie Probleme. Im Einsatz hab’ ich mir einmal die Schulter gebrochen und das Knie verrenkt. Das Koma kam durch einen Schädelbasisbruch. Aber nie die Hüfte. Ich begreif’ es nicht.«

      Auf den Lippen der Ärztin zeigte sich ein verständnisvolles Lächeln, aber Willa hatte das Gefühl, dass der Blick trotzdem durch sie hindurchging.

      »Während