Isabella Archan

Ein reines Wesen


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Sie, Frau Stark. Bitte.«

      Willa gab vorerst auf.

      Die grüne Person seufzte erleichtert, dann trat Stille ein. Nein, nicht ganz. Willa hörte ein stetiges Piepen, ein leises Schnauben und eine Art Klacken, als würden ihre Lebenssekunden heruntergezählt.

      Jetzt erst bemerkte sie die Schläuche über ihrem Gesicht, die über das Bett zu einer Maschine führten. Von der kamen die Geräusche.

      Sakra, verdammt und Gott im Himmel – was war ihr geschehen?

      Zwei Hände strecken sich nach vorne.

      Es sind nur diese Hände, die sie sehen kann. Die Finger sind geschlossen, fest geschlossen. Sie krümmen sich, wie zu Fäusten, aber nicht um zuzuschlagen, sondern um etwas festzuhalten. Sich an etwas festzukrallen.

      Dieses Etwas ist ein Kissen.

      Oder ein Polster, wie man bei ihr zu Hause sagt. Doch sie ist schon lange weit weg von ihrer Heimat, oft einsam, aber nie so sehr, dass sie ganz zurückkehren will.

      Deshalb bleibt sie bei Kissen.

      Weiß ist es, wie alle Bettwäsche hier. Weiß und sauber. Gebügelt. Nicht weichgespült, weil man nie wissen kann, ob nicht einer der Patienten eine Allergie hat gegen die Chemikalien, die den Stoff weich machen sollen. Das Bügeln reicht. Der heiße Druck auf die Wäsche macht sie geschmeidig.

      Sie mag dieses Weiß.

      Nein, sie mochte es. Bis zu dem Moment, in dem sie den Blick zur angelehnten Tür gewendet und das erhobene Kissen gesehen hat.

      Sie mag, nein, sie mochte auch Hände. Hände, die streicheln, die zärtlich umspielen können. Die tätig sind, fleißig ihren Dienst tun. Wenn nötig zupacken können, sich nicht sträuben, Kranke und alte Menschen zu berühren. Hände, an diesem Ort oft umhüllt von Latex. Noch lieber als umhüllte Haut, spürt sie die bloße Berührung.

      Die Hände, die sie durch den Türspalt sehen kann, scheinen ebenfalls frei von einer Hülle zu sein, bloß und nackt. Rosa, an manchen Stellen braune Flecken, Muttermale. Die Fingerknöchel werden jetzt heller als die umgebende Haut. Zu wem gehören sie?

      Sie widersteht dem Impuls, gegen die Tür zu stoßen, zu treten, sie aufzureißen, vielleicht mit einem wütenden Schrei: Was machen Sie da? Wer sind Sie?

      Bevor ihr Hirn den Impuls einer körperlichen Aktion über die Nervenbahnen zu ihren Muskeln, ihrem Kehlkopf, ihren Stimmbändern schickt, senken sich in ihrem Blickfeld Kissen und Hände. Gehen nach unten zu dem Gesicht des Menschen, der im Krankenbett ruht.

      Den gesamten oberen Teil des Bettes kann sie einsehen. Ein Kissen gibt es auch hier, auf dem der Kopf ruht. Dazu der Hals, die eine Schulter, der eine Oberarm, der auf halber Strecke unter der weißen Decke verschwindet. Sie betrachtet das seitliche Profil. Das eine Auge, das sie erkennt, ist geschlossen. Eine von Falten durchzogene Wange. Ein Mundwinkel, tiefhängend. Lippen, die eingefallen sind ohne Gebiss. Ein erschlaffter Kinnlappen, der in einen dünnen Krähenhals übergeht.

      Es ist ein Mann in seinen späten Jahren.

      In der winzigen Zeitspanne, die es braucht, das Kissen auf das Gesicht zu senken, kann sie den Greis erkennen.

      Ludwig Kritzel.

      Der Name schießt ihr durch den Kopf. Der leicht senile Herr Kritzel mit seinem schmerzenden Knie. Seine Tochter wohnt in Berlin, ruft aber jeden Tag an, hat er ihr erzählt. Vom Krieg hat er berichtet, von seiner verstorbenen Frau und angeblichem Geld unter seiner Matratze. Hätte sie ihm das glauben sollen?

      Vor drei Monaten ist er Sechsundneunzig geworden.

      Genau an seinen Geburtstag hatte er Pech und rutschte in seiner Küche aus. Infolge des Sturzes wurde er eingeliefert. Zwei Wochen war er Patient, dann durfte er zurück in sein kleines Appartement im betreuten Wohnen in Saarlouis. Eine Operation und Wiederaufnahme in die Klinik wurden erst jetzt vonnöten. Doch Dr. Stolz hat beschlossen, mit der OP zu warten, denn seit gestern geht es Herrn Kritzel nicht gut. Er fühlt sich elend, schwach, atemlos. Es hätte sie nicht gewundert, wenn sie von seinem Versterben vor der OP erfahren hätte.

      Wenn sie allerdings nun vom Tod des Herrn Kritzel hören würde, stünde das Bild des sich senkenden Kissen zwischen ihr und der Tatsache, dass sie bis jetzt nichts unternommen hat.

      Denn ein Verbrechen, das ist es, was hier geschieht, von dem sie Zeuge wird. Mitten am Tag, bei unverschlossener Tür wird ein Patient ermordet. Kann das möglich sein?

      Ihr Mund geht auf und bleibt offen stehen.

      Die Hände sind unten. Mit ihnen das Kissen.

      Nicht fürsorglich, nicht hilfsbereit. Das Weiß der Fingerknöchel breitet sich über die Handrücken aus.

      Das Gesicht verschwindet unter dem Kissen.

      Jetzt! Jetzt musst’ was tun. Jesus, Maria und Josef. Mach’ was, dumme Kuh!

      Sie hebt jedoch nicht die Hand, um die Tür weiter aufzustoßen. Sie ruft nicht.

      Sie dreht sich. Auf dem Absatz. Um.

      Setzt einen Fuß vor den anderen. Leise. Vorsichtig. Bewegt sich Schritt für Schritt weiter. Weg vom Ort des Geschehens.

      Mittig sind die Besuchertoiletten. Dort geht sie hinein. Immer noch mit größter Vorsicht, als wäre der Boden unter ihr vermint. Sie wählt die hinterste Kabine. Dann kniet sie sich vor die Schüssel und übergibt sich.

      »Ludwig Kritzel?«

      Nicole musste fragen.

      Es waren zwanzig Minuten seit ihrer Beobachtung vergangen. Sie hatte sich nicht getraut noch einmal am Zimmer des Patienten vorbeizugehen. Aber in ihrem Hals steckte immer noch ein Kloß und zwischen ihren Zähnen der Geschmack vom Erbrochenen, obwohl sie sich den Mund mit viel Wasser ausgespült hatte.

      »Was soll mit ihm sein?«

      Oberschwester Edda Leistenberger hob eine Augenbraue. Wie meistens wirkte sie gestresst und strahlte eine Unzufriedenheit aus. Oder Nicole fühlte sich zu schnell angegriffen, wie ihre Kolleginnen ihr öfter vorwarfen, und legte jede Reaktion auf die Goldwaage.

      »Geht es Herrn Kritzel gut?«

      »Was für eine Frage. Du warst doch zur Visite heute Vormittag eingeteilt.«

      »Nein.«

      »Hat Dr. Schmitz zu dir etwas gesagt, bevor er weggefahren ist?«

      »Nein.«

      »Was gibt es also Wichtiges, Frau Seidl?«

      »Nichts, Edda. Ich wollte nur–«

      Sie konnte nicht zu Ende sprechen. Ich wollte nur wissen, ob der alte Herr ermordet worden ist? Doch das war keine Frage, die man im Vorbeigehen seiner Vorgesetzten stellte.

      »Was ist denn nun, Nicole, mit dem Patienten?«

      »Nichts. Alles gut.«

      Edda Leistenberger bedachte die Krankenschwester mit einem bösen Blick, bevor sie sie stehen ließ und weiterhetzte. Ihre Schuhsohlen qietschen leicht auf dem Marmorboden im Klinikflur. Wieder einmal fühlte sich Nicole ungerecht behandelt. Hatte Edda nicht für die anderen Schwestern und Pfleger immer ein offenes Ohr?

      »Und, Nikki, nix zu tun?«

      Nicole stieß einen leisen Schrei aus, als sie die Stimme in den Rücken traf.

      »Bist du aber schreckhaft heute.«

      Marvin, einer der Pfleger, war hinter ihr aufgetaucht. Wie meistens war er guter Laune. »Na, Nikki? Bist du ein ›Wasserl‹?«

      »Ach geh!«

      Obwohl sie es nicht mochte, dass jemand ihren Heimatdialekt imitierte, musste sie lächeln.

      »Und