Isabella Archan

Ein reines Wesen


Скачать книгу

befürchtete, ihre Wirbelsäule könnte brechen. Erst, als ihr der Therapeut erklärte, dass dieses Geräusch ein gutes Zeichen war, weil es signalisierte, dass die Wirbel wieder in ihre richtigen Positionen kamen, ließ sie ihn uneingeschränkt an sich hantieren.

      Das Training war hart, qualvoll und unerbittlich. Der Erfolg stellte sich nur langsam ein. Die ungeduldige Willa musste lernen, sich Zeit zu lassen.

      Das Problem mit der Hüfte blieb jedoch hartnäckig. Schmerzen waren zu täglichen Begleitern geworden. Bei zu langem Gehen oder Stehen knickte die linke Seite regelrecht ein. Eine Gehhilfe lehnte sie strikt ab.

      Die linke Körperhälfte blieb im Ganzen problematisch.

      Manchmal flackerte ihr linkes Auge und eine Sehstörung stellte sich ein. Derart, dass sie ein Bild vor sich doppelt und zeitversetzt wahrnahm. Glaskörperablösungen hieß das Phänomen und war angeblich harmlos. An den Fingern der linken Hand brachen ihre Nägel regelmäßig ab und ihr Herz veranstaltete manche Nacht einen Trommelwirbel, als würde es eine Big Band anführen.

      Harte Zeiten, seit sie erwacht war.

      Ihr Lebensabschnitt nach dem Koma war zu einem Kampf mit ihrem Körper geworden. Ein stetiger Wechsel zwischen Erfolgserlebnissen und deprimierenden Abstürzen. Dankbar war Willa nur für eines: Die Beschwerden lenkten sie von den Geschehnissen ab, die zu dem Schlag auf ihren Kopf, dem Schädelbasisbruch und ihrer Auszeit geführt hatten.

      Jeden aufkommenden Gedanken an die Abfolge, die Gründe, die absehbare Katastrophe schob sie mit derselben Verbissenheit in ihren unterbewussten Speicher zurück, wie sie die Übungen absolvierte.

      Sie weigerte sich, mit der Polizeipsychologin zu reden, sie unterließ es, den Kollegen ihres Teams einen Bericht zu schreiben. Der Fall, und gleichermaßen ihr Fall, war polizeilich dokumentiert, ihre Aussage nicht unbedingt erforderlich, also gab sie eine vollkommene Gedächtnislücke an.

      Keine weitere Erklärung dazu. Basta.

      Ihr Verdrängungsmechanismus wurde immer perfekter. Was geschehen war, war geschehen, begraben und mit Erde bedeckt. Namenloses Grab. Irgendwo im Nirgendwo eine Leiche, die sich Monat für Monat mehr zersetzte.

      Wegen der körperlichen Probleme und weil sie konsequent die Gespräche beim psychologischen Dienst verweigerte, durfte sie nicht zurück in den aktiven Außendienst und in das Team um Hauptkommissar Peter Kraus. Zwar war sie ihm weiterhin unterstellt, aber es würde in naher Zukunft keine Einsätze geben.

      Büroarbeit und Innendienst waren die meistgehassten Wörter, die Willa nun in ihrem Repertoire hatte.

      Trotzdem war sie ihrem Chef dankbar. Hatte er doch, während sie an Maschinen angeschlossen im Krankenhaus gelegen hatte, ihre Festanstellung bei der Kölner Kripo durchgesetzt. Ihr größter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Doch der Spruch der Buddhis­ten hatte sich bewahrheitet: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht, es könnte in Erfüllung gehen.

      Das Wasser war Willas neues Element geworden. Schwimmen war eine Möglichkeit, die Gedanken laufen zu lassen und weiter die körperlichen Beschwerden zu verbessern. Brustschwimmen war zwar grausig schmerzhaft, aber, wenn sie sich drehte, wechselte die Anstrengung in reine Freude.

      Warum ihr das Rückenschwimmen nichts ausmachte, konnte ihr kein Arzt erklären. Einer hatte ihr geraten, es einfach zu genießen, was sie jedes Mal tat. Dabei konnte sie sich strecken und dehnen, sich wieder wie früher spüren. In der Bewegung im Wasser lag das Versprechen einer möglichen vollkommenen Genesung. Das Eintauchen erschien ihr wie die Verheißung auf eine Rückkehr in ihr früheres Leben.

      Inspektorin Willa Stark.

      In Graz geboren und aufgewachsen, ihre Ausbildung absolviert, über Europol nach Köln gekommen.

      Erfolgreich war sie gewesen, auch beim letzten Fall vor dem Koma, aber über den herrschte ja Stillschwiegen. Ungesund für deine Psyche, sagte auch Harro, der gute Freund an ihrer Seite. Sein verheultes und zugleich so glückliches Gesicht, als er sie das erste Mal im Krankenhaus nach dem Aufwachen besucht hatte, würde sie nie vergessen. Auf allen Ebenen hatte er sie unterstützt, hatte sich die ersten Wochen Urlaub genommen, um ganz für seine Willa da zu sein.

      Seine Willa.

      War das der Grund gewesen, warum sie ihn noch mehr abgeblockt hatte, als in der Zeit davor? Seine Zuneigung, seine Fürsorge waren ihr zuviel geworden. Sie hatte sich eingeigelt und die Unnahbare gespielt. Obwohl sie es auch genossen hatte, von ihm umsorgt zu werden. Seine Enttäuschung über ihren Rückzug hatte Harro nie offen gezeigt, aber Willa meinte, sie bis heute spüren zu können.

      Inzwischen hatte sich der Alltag zwischen ihnen wieder eingespielt. Das Institut nahm Harro voll in Anspruch und seit einigen Monaten war er mit seiner Kollegin Tine Latisch zusammen. Willa hatte es mit einem Seufzen und Lächeln aufgenommen, beides passte. Das Leben ging weiter.

      Ihre Mutter war mehrmals nach Köln gereist, immer in der Hoffnung, dass Willa bereit war nach Hause, nach Graz mitzukommen, aber Mamas Wünsche erfüllten sich nicht.

      Willa blieb und holte sich ihre Streicheleinheiten von ihrem Kater Jimmy. Ihre gesellschaftlichen Aktivitäten beschränkten sich sonst hauptsächlich auf die Kollegen, die ihr von den neuen Fällen erzählten, an denen Willa keinen Anteil hatte.

      So kam es, dass die Inspektorin in Köln ihren festen Platz hinter einem Schreibtisch eingenommen hatte.

      Der Tisch war groß und mit vielen Schubläden ausgestattet, in denen sie neben den Unterlagen und Vorlagen allerlei Kram unterbrachte. Dinge, die sie eigentlich entsorgen wollte, die aber nicht ganz verschwinden sollten. Alte Ausschnitte aus Zeitungsartikeln über sie und ihre Fahndungserfolge waren darunter.

      Polizeiverwaltungsbeamtin Stark.

      Die Arbeit war träge und langweilig. Berichte von Kollegen überprüfen, die sich über Fehler bei Einsätzen beschwerten. Sich um interne Kommunikation kümmern, Dienstmails auffinden, die im allgemeinen Verkehr untergegangen, verschwunden, gelöscht worden waren, aber noch gebraucht wurden. Eine Liste an Aufgaben, die einer bloßen Sekretärin spannend und abwechslungsreich erschienen wären, Willa aber anödeten, bis ihr Hirn einknickte wie ihre Hüfte.

      Ein scharfer Schmerz schoss vom linken Knie bis zu ihrer Achsel hoch. Sie schluckte Wasser, schaffte es aber, nicht unterzugehen. Eine Weile blieb sie an Ort und Stelle und trat Wasser. Schließlich gelang es ihr, die Bahn zu beenden, und sie hielt sich keuchend am Beckenrand fest.

      Nach dem Schwimmen und dem Frühstück würde sie vom Hotel aus in die Saar-Vital-Klinik fahren.

      Zu einem Termin bei Dr. Ira Steiner. Sie galt als eine der vielen Spezialistinnen für Hüftleiden.

      Wieder war es Harro gewesen, der sich Willas Sache angenommen hatte. Er hatte sich immer weiter mit ihren Beschwerden beschäftigt. Mit ihm hatte Willa über die Möglichkeit eines neuen Hüftgelenks diskutiert, eine Lösung, die Linderung bringen konnte, vor der sie sich aber fürchtete. Doch am Ende war sie bereit gewesen, sich dieser Alternative zu stellen. Drei renommierte Ärzte hatte Harro ihr empfohlen. Im Klinikum Münster, an der Uniklinik Dresden und im Winterberg-Krankenhaus in Saarbrücken praktizierten diese Koryphäen jeweils. Die einzige Frau unter den Dreien und die Nähe zu Frankreich hatten Willas Entscheidung für das Saarland beeinflusst.

      Des Weiteren hatte Harro es geschafft, binnen einer Woche ein erstes Zusammentreffen zwischen Frau Dr. Ira Steiner und Willa festzumachen. Die Ärztin war nicht nur im großen Winterberg-Krankenhaus angestellt, sondern bot auch zweimal die Woche in der noch neuen Privatklinik vor Ort Sprechstunden an.

      Was immer dabei herauskommen mochte, die Krankenversicherung der Polizei würde die Kosten nicht übernehmen, soviel stand von vorneherein fest. Harros Angebot, Willa auch dabei finanziell unter die Arme zu greifen, hatte sie erst unter der Vorgabe, ihm nach und nach den Betrag zu erstatten, angenommen.

      Um Herrin der Lage zu bleiben, hatte sie sich vorerst im Hotel am Triller einquartiert. Es war nicht ganz billig, aber das Schwimmbad hatte den Ausschlag gegeben. Stationär in die Klinik wechseln konnte sie immer noch, wenn es sich als notwendig herausstellen würde.