Isabella Archan

Ein reines Wesen


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      Er zuckte mit den Schultern. »Egal.«

      »Edda ist heute wieder ätzend: Was gibt es also Wichtiges, Frau Seidl?« Nicole äffte ihre Vorgesetzte nach. »Ich hasse es, wenn Sie einen von uns beim Nachnamen anspricht. Man hat das Gefühl, sie hält sich für etwas Besserer.«

      »Lass Edda in Ruhe. Sie hat einen harten Job.« Pfleger Marvin nahm die Oberschwester in Schutz. »Und eine harte Zeit im Privaten.«

      Nicole wusste leider wenig über Edda Leistenbergers Privatleben. Gerne hätte sie Marvin dazu ausgefragt, aber der junge Mann setzte sich bereits wieder in Bewegung.

      »Waserl!«, rief er Nikki noch zu. »Jetzt stimmt es aber.«

      Sie überlegte, aber ihr wollte kein einziger Ausdruck auf Saarländisch einfallen, mit dem sie ihn hätte zurücknecken können. Dazu lebte sie erst zu kurz in dem Bundesland. Stattdessen suchte sie diesmal die Personaltoilette hinter dem Schwesternzimmer auf. Sie schloss sich in der Kabine ein und setzte sich auf den geschlossenen Deckel.

      Hatte sie sich vorhin geirrt? Etwas gesehen und falsch interpretiert? Sie kannte sich und ihre Vorliebe zu Geschichten und Übertreibungen. Der Hang, zu jeder Story, die sie über andere erfuhr, eigens erfundene Ausschmückungen hinzuzufügen, hatte ihr auch hier schnell den Ruf einer Tratsche eingebracht.

      Aber diesmal war doch alles echt gewesen. Bei dieser grauenhaften Beobachtung brauchte es keine ihrer Zugaben. Oder?

      Das Gefühl der Einsamkeit kam hoch. Wie ein ungebetener Besucher, der sich täglich mehrfach blicken ließ. So gerne hätte sie mit jemanden darüber gesprochen, aber außer losen Bekanntschaften gab es in Saarbrücken und an ihrer neuen Arbeitsstelle in der Klinik niemanden, dem sie sich anvertrauen wollte. Nicht, dass es bei ihrem vorherigen Job im Evangelischen Krankenhaus in Köln anders gewesen wäre. Auch aus ihrer Heimat Österreich waren ihr nur lockere Kontakte geblieben.

      Wer trug daran die Schuld? Alle. Und niemand. Sie selbst? Das Schicksal vielleicht. Das Leben war ungerecht, aber es war das einzige, das ein Mensch hatte. Guter Spruch, den sie in einer der Klatschzeitschriften gelesen hatte.

      Nicole legte beide Hände aufs Gesicht und beugte sich vor. In der Dunkelheit der Handflächen ließ sie vor ihrem inneren Auge das Geschehen im Krankenzimmer noch einmal Revue passieren. An dem Punkt, an dem sich das Kissen auf Ludwig Kritzels Gesicht gesenkt hatte, hielt sie inne.

      Nein, stopp. Sie hatte sich geirrt. Definitiv.

      Ihr Gehirn war durch die vielen TV-Krimis, die sie sich leidenschaftlich gerne ansah, auf ein mögliches Verbrechen programmiert. Sie hatte den Ablauf einfach weitergesponnen. Das war die Erklärung. Wie damals, als sie sich sicher gewesen war, dass ein Einbruch in ihrer Wohnung stattgefunden hatte, obwohl es keine Spuren davon gegeben hatte und nichts fehlte. Oder vor einer Woche, als sie gedacht hatte, dass sie jemand abends auf dem Nachhauseweg verfolgen würde. Nichts davon war wahr gewesen.

      Zeit, den Dienst wieder aufzunehmen.

      Ein Lächeln kam über ihre Lippen.

      Eines bliebt ihr immer. Die Fürsorge für die Patienten. Ihre Arbeit mochte sie. Zu Hundertprozent. Im Dienst an den Kranken war sie wichtig, konnte sie sich mit anderen austauschen. Durch ihre Leistung wurde sie ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Das Helfen war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.

      Schon als kleines Mädchen, als sie zu früh die Verantwortung für ihren alkoholkranken Vater übernommen hatte. Nicht Mama, die hatte nur geweint oder geschimpft. Nicole hatte Papa zur Seite gestanden und dabei geholfen, seine Sucht vor anderen zu verbergen. Selbst nach seinem Tod hatte sie die Legende eines Krebsleidens aufrecht erhalten und damit seine Reputation gerettet. Doch jetzt war nicht die Zeit, über ihre schwierige Kindheit nachzudenken.

      Nicole stand auf, betätigte automatisch die Spülung.

      Vielleicht würde sie im Schwesternzimmer auf jemanden treffen, mit dem sie über Oberschwester Leistenberger ablästern konnte. Damit würde sie sich besser fühlen.

      Kaum aus der Toilette, sah sie Marvin den Krankenhausgang entlanglaufen. Er überholte zwei ältere Patienten, die mit Rollatoren ihre Runden drehten.

      »Wohin so eilig?«

      Er hielt mitten im Schritt inne. Sein Oberkörper bewegte sich weiter nach vorne, dass es aussah, als würde er einen Diener machen. Nicole lachte.

      »Nikki, hast du es nicht gehört?«

      »Was denn? Dass du vor Edda davonrennst?«

      Er sah sie irritiert an. »Keine Ahnung, wovon du redest. Aber ein Patient ist gestorben. Der nette Herr Kritzel.«

      »Ludwig Kritzel?«

      »Genau.«

      »Oh Gott.« In Nicoles Ohren entstand ein hoher singender Ton. »Weißt du, woran er gestorben ist, Marvin?«

      »Nö. Vielleicht ein Herzstillstand. Es ging ihm die Tage doch schon nicht gut.«

      Marvin setzte seinen Lauf fort.

      Nicole wurde wieder übel. Sie stolperte in die entgegengesetzte Richtung, erneut auf die Personaltoilette. Aber in ihrem Magen gab es nichts mehr, was noch hochkommen konnte.

      Am Waschbecken sah sie ihr Gesicht im Spiegel. Rund und mit Sommersprossen auf den Wangen. Dazu ihr rotblondes Haar und den leichten Ansatz zum Doppelkinn. Sie sah aus wie immer. Ein leichter Schatten zeigte sich unter den Augen, kaum wahrnehmbar. Nicole stieß einen langen Seufzer aus.

      Ludwig Kritzel war tatsächlich tot. Herzstillstand?

      Lachhaft. Sie wusste es besser. Der alte Mann war unter einem Kissen erstickt. Die Leichenschau würde es bestätigen. Nikki setzte alle Hoffnung in Dr. Schmitz, einen der beiden Klinikleiter. Wenn er zurückkam, würde er sich der Sache annehmen. Bado Schmitz. Er war kompetent und liebenswürdig und sie schwärmte schon länger für ihn. Wenn sie sich in Tagträumen verlor, war er der neue Mann an ihrer Seite.

      Sie stoppte diesen Gedanken. Ein zweiter drängte sich in den Vordergrund. Was, wenn später auch ihm nicht auffiel, dass Ludwig Kritzels Sterben kein natürliches Dahinscheiden war? Bei einem Mann in seinem hohen Alter war der Tod ein ständiger Begleiter und überraschte niemanden.

      Dann gehst’ zur Polizei.

      Eine Stimme in Nicoles Kopf. In ihrem Heimatdialekt.

      Nein. Denn dann werde ich noch einsamer sein.

      Hör auf zu jammern, du Vaserl. Du gehst.

      »Ja«, Nikki sprach zu ihrem Spiegelbild. Sie sah, wie sich ihre Lippen öffneten und wieder schlossen.

      Versprochen?

      »Versprochen.«

      Das Schwimmbad im Hotel am Triller war am Morgen bereits gut besucht.

      Diese Frühschwimmer waren drei Senioren und zwei Mütter mit Kleinkindern. Dazu ein jüngerer Mann, der sich kraulend von Beckenrand zu Beckenrand bewegte und rücksichtslos an den anderen vorbeizog.

      Willa passte in keine dieser Kategorien.

      Sie war hier, weil sie ohnehin seit fünf Uhr keinen Schlaf mehr gefunden hatte. Die kleine Flasche Wein aus der Minibar vor dem Zubettgehen hatte sie zwar schnell einschlafen lassen, aber wilde Träume hatten sie heimgesucht.

      Willa zog ihre Bahnen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sie drehte sich oft, wechselte die Haltung. Das Brustschwimmen bereitete ihr Schmerzen. Egal, ob sie sich Zeit ließ, wie der letzte Physiotherapeut es ihr geraten hatte, oder ob sie mit zusammengebissenen Lippen ihren Körper antrieb und trotz der Qual bis zum Beckenrand durchhielt.

      Die Hüfte war es, die höllisch weh tat, seit ihrer Rückkehr aus dem Dornröschenschlaf, wie Harro es gerne benannte. Das Wort Koma vermied er genauso wie die Kollegen und Willas Mutter.

      Zu Anfang waren die Schmerzen über ihren gesamten Körper verteilt gewesen. Jeder Muskel schien sich zurückgebildet